Dienstag, Oktober 30, 2007

1937_5: Nah dran

Margaret Bourke-White "Louisville, Kentucky" 1937
Silbergelatineabzug, 25 x 34 cm
Rheinisches Landesmuseum Bonn
mit freundlicher Genehmigung der Kunsthalle Bielefeld

Dem melancholischen Blick amerikanischer Künstler auf die Folgen der Weltwirtschaftkrise (siehe 1937_4) tritt im Medium der Fotografie und in der Person von Margaret Bourke-White (1904 New York - Stamford Ct. 1971) die politisch, gesellschaftlich und sozial engagierte Sichtweise zur Seite. Vor dem Hintergrund der glücklichen nord-amerikanischen Durchschnittsfamilie - Vater, Mutter, Sohn und Tochter, lebens- und unternehmungslustig wie das begleitende, fidele Schoßhündchen, unterwegs im eigenen Mittelklasseauto aus landeseigener Produktion - steht das Lumpenproletariat brav in Schlange an für südstaatliche Sozialhilfe und nahrhafte Garküche. Zwanzig Jahre bevor Andrew Hacker im "American Political Science Review" von 1957 "WASP" definierte, gebildete "protestantisch weiße Angelsachsen" der oberen Mittelklasse, gelegentlich auch Vertreter des amerikanischen (Geld-)Adels, fotografierte Bourke-White ausgebeutete Kleinpächter in den Südstaaten der USA, auf diesem Foto allesamt "non-whites", in Zeiten tiefster Depression vor der Illusion des amerikanischen 3-Sterne-Lebensstandards. Mit diesem zutiefst sarkastischen Kommentar zur WASP-Ideologie "From Rags to Riches", vom Tellerwäscher zum Millionär, konterkariert sie den Amerikanischen Traum vom "American Way of Living". Wie zufällig wirken ihre Inszenierungen der Isolation und Orientierungslosigkeit des Individuums abseits der städtischen Öffentlichkeit. Zusammen mit ihrem Ehemann und Schriftsteller Erskine Caldwell legt sie 1937 die Foto- und Textstudie "You Have Seen Their Faces" vor. Ihr distanzierter Blick auf die Gesichter dieser Gesellschaft enthüllt ausschnitthaft und damit paradigmatisch Einsamkeit und Entfremdung ihrer "fellow citizens". Und sie bezieht sich selbst ein in diese Szene, fotografiert als Mitglied der gleichen WASP-Kaste aus ihrem eigenen PKW, der über die gleichen scheibenwischenden Statussymbole verfügt, die im Foto spiegelbildlich angeordnet die Schlange der portraitierten Gegenwelt zwischen dem Breitwandplakat des sympathischen amerikanischen Mittelstands und dem verwandten aber unbestechlichen eigenen Blick der Fotografin vorbei defilieren lässt.
Nach ihrem Studium beginnt Margaret Bourke-White 1927 als Industriefotografin und wird bald zur Vorreiterin für Arbeiten der "Farm Security Administration", die Roosevelts Kampagnen des "New Deal" dokumentieren sollte. Qualifiziert dazu hatten sie ihre Reisen nach Deutschland und in die Sowjetunion zwischen 1930 und 1932, von denen sie mit Bildberichten über zerrissene Lebensgeschichten in einer sich auflösenden europäischen Gesellschaft heimkehrte und die sie zu einer der Hauptfiguren der modernen Sozialfotografie machten. Aus politisch-zeitgeschichtlichem Engagement gegen die Nationalsozialisten initiierte sie 1936 in New York die Aktion "Artists Against War and Fascism" und veröffentlichte unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg im April 1945 erschütternde Bilder des befreiten Konzentrationslagers Buchenwald.

Das Foto als Instrument der Aufklärung übersteigt im gesellschaftspolitischen Anspruch Bourke-Whites die Fotoprojekt-Aufgaben der staatlichen "Resettlement Administration" von Präsident Roosevelt, dem es mit den Arbeiten z.B. von Dorothy Lange gelang, einerseits das entbehrungsreiche Leben und die verheerenden Folgen der Weltwirtschaftskrise in den ländlichen Regionen der USA festzuhalten, andererseits Menschen für soziale und politische Zwecke zu sensibilisieren. In diesem Anspruch finden in Amerika und Europa Fotografen zu einander, die sich primär entweder als agitierende Bildreporter oder dokumentarische Fotokünstler verstehen wie etwa der "Fotonomade" Walker Evans mit seinen Portraits des sozialen Lebens während der Depression in den USA.
1936 wird in New York die illustrierte Zeitschrift "Life" gegründet, die sich als "Speicher der Geschichte" begreift, in dem sowohl die themenorientierte Reportagefotografie als auch die zeitorientierte Portraitkunst ihre Heimat findet. Heimat auch für die vielen verfolgten und exilierten Künstler aus Deutschland und Europa, die nach Paris und London hier in New York in ihrer Gegnerschaft zur faschistischen Ideologie oft Isolation und ein ungewisses Schicksal erwartet. Dieser Entwurzlung und ambivalenten Existenz der (Foto-)Künstler sowie ihrem Kampf gegen den Faschismus in Deutschland und Italien kommen als neues Werkzeug für ihre "Propaganda" die kleinformatigen Kameras aus deutscher Produktion wie gerufen. Ihr Ziel am Vorabend des Weltbrands ist die Manipulation der Massen. Maxime für ihre Arbeiten ist das Urteil von Robert Capa (eigentlich Endre Friedmann): "Wenn das Bild nicht gut ist, warst du nicht nah genug dran!" Reportagefotografie spiegelt die Gefühle der Menschen in Zeiten existentieller Not. Es entstehen fotografische Bilder zwischen Portrait und Sozialfotografie von dokumentarischer Eindringlichkeit und vollendeter künstlerischer Empathie, Bilder von Guernica bis Auschwitz, deren Grauen und gleichzeitige Brillanz wie im Surrealismus (siehe 1937_6) schrecklich schön sind: "a terrible beauty is born".