Sonntag, Oktober 28, 2007

1937_4: Blick auf die Welt

Mark Rothko "Contemplation" 1937/38
Öl auf Leinwand, 61,3 x 81,6 cm
National Gallery of Art Washington
mit freundlicher Genehmigung der Kunsthalle Bielefeld

Der Maler dieser "Kontemplation" ist uns heute vor allem als Schöpfer teils großformatiger Farbfeldmalerei bekannt, die von der Kunstgeschichte einhellig als die bedeutendsten Gemälde des amerikanischen Abstrakten Expressionismus seit den 1950er Jahre bewertet werden. Dass dies auch die Einschätzung des kunstverständigen Publikums ist, die von finanzkräftigen Sammlern geteilt wird, beweist die Tatsache, dass sein Werk "White Center (Yellow, Pink, and Lavendel on Rose)" aus dem Jahr 1950 am 15. Mai dieses Jahres auf einer Auktion bei Sotheby's in New York für knapp 73 Millionen Dollar den Besitzer wechselte. Damit hat sich "White Center" (200 x 140 cm) in die Liste der zehn teuersten Gemälde der Welt eingetragen und den bei weitem höchsten Preis erzielt, für den ein Werk zeitgenössischer Kunst jemals auf einer Auktion erworben wurde.
Knapp 15 Jahre vorher hatte der gleiche Künstler noch ganz im Stil des Amerikanischen Realismus gemalt. 1910 war er mit sieben Jahren in die Vereinigten Staaten gelangt und hatte 1935 die nur neun Mitglieder umfassende Künstlergruppe "The Ten"(!) gegründet, deren Sekretär er wird. Diese fortschrittliche, dem Expressionismus und Experiment verpflichtete Künstlergruppe, veranstaltet Ende 1937 eine Auktion zugunsten der Kinder im Spanischen Bürgerkrieg und beweist so aus dem fernen Amerika ihren humanitären und visionären künstlerischen Blick auf die Folgen der Fliegerapokalyptik (siehe 1937_3) in Europa. Sein Name zu dieser Zeit ist immer noch Marcus Rothkowitz, 1903 als viertes Kind des jüdischen Apothekers Jacob und seiner Frau Anna im russischen Dwinsk, dem heute lettischen Daugavpils, geboren. Erst 1940, zwei Jahre nachdem er amerikanischer Staatsbürger geworden war, verkürzt er seinen Namen auf Mark Rothko, eine Änderung, die erst 1959, gut zehn Jahre vor seinem Freitod am 25. Februar 1970, legalisiert wurde.

Die Odyssee des Namens steht symbolisch für Rothkos Lebenslauf und Oeuvre. "Kontemplation" aus dem Winter 1937/38 in hellen und dunklen Braun- und Grünfarben ist ein Bild tiefer Melancholie, das durch eine ebenso eindringliche wie irritierende Aufteilung der Farbflächen besticht. Es zeigt eine offenbar in einem (Lehn-)Stuhl sitzende menschliche Figur in halber Rückenansicht und kontrapostischem Profil. Hinter ihr im rechten Bildteil ist auf einem schmalen (Fenster-)Brett eine auf einer dreibeinigen Säule montierte Glaskugel zu sehen, gefüllt mit einer milchig grauen, beleb(t/end)en Flüssigkeit. Wollen wir in ihr eine Weltkugel erkennen, so ist ihre Kartografie ebenso wenig ersichtlich wie der in einer Kristallkugel verborgene Blick in die Zukunft. "Blurred", verschwommen, ist das Bild dieser Glaskugel, aber eindeutig virulent. Beide Objekte sind in gleichem Abstand durch eine dünne, mattgrüne Vertikale getrennt, die auf dem Brett und einer weißen Horizontalen aufsetzt, die eine braunbeige Fläche begrenzt, die den gesamten unteren Bildteil einnimmt. Fläche, Horizontale und Vertikale schaffen eine räumliche Dimension und evozieren den Eindruck zweier Fensterflächen, durch die der Betrachter in einen Innenraum blickt, die wohl männliche Figur hingegen nach draußen. Diese und sämtliche anderen horizontalen und vertikalen Begrenzungen der Farbflächen sind geringfügig im Uhrzeigersinn geneigt, gerade so viel, dass eine Irritation des Blicks, nicht aber der Eindruck beschädigter Architektur entsteht. Das Gefühl latenter Instabilität und visueller Undefiniertheit erstreckt sich auch auf die Tristesse des kahlgrünen Raumes, der mehr als drei Viertel des oberen Bildraums einnimmt. Ob Rückwand oder höhlenartige Verlängerung der Zimmerflucht, das innere dunkelgrüne Rechteck des Innenraums, dessen linker quadratischer Teil die menschliche Figur umschreibt und rechts beinahe zentralsymmetrisch das Weltkristall einfasst, begründet farblich, kompositorisch und bedeutungstragend die beschriebenen Objekte der kontemplativen Melancholie. Neigt sich der Kopf der Figur in Rückenlage leicht nach links, so ist die Blickrichtung nicht eindeutig zu bestimmen – sie mag gedankenverloren die Außenwelt diffus touchieren, sie mag auf das einzige Wandobjekt geheftet sein, das raumhoch an der linken Wandfläche hängt im äußeren, hellgrünen Rechteck der Raumkomposition. Ohne eindeutig christliche Ikonografie evoziert das dargestellte weiße Objekt auf gelbem Trägermaterial Assoziationen von Andacht und Meditation, verweist also auf die Richtung der "Kontemplation" und ihrer Sehnsucht: "Erlösung" verspricht das enigmatische Objekt in der Bildmitte, das die grüne Vertikale zwischen Mensch und Zeit-Raum umschließt. Dieses schwarzgelb gefasste, thronartige Objekt lässt denken an exponiertes Kirchengestühl, Beichtstuhl oder Bischofssitz, einen Richterstuhl oder Katheder kultischer Handlungen und Verkündigungen auch ägyptischer oder islamischer Provenienz. Der Platz ist nicht besetzt und dominiert dennoch Komposition und Darstellung des Bildes. Er steht eigentümlich nah der Figur im Rücken, und seine schwarze Farbe bedrängt schicksalhaft deren weißgraue Gedankenwelt, ebenso wie sein sonnengelber Rücken symbolischen Bezug zur emblematischen Kugel im rechten Bildteil herstellt.

Ist der Sinn auch nicht eindeutig als Botschaft dechiffrierbar, so sind Düsterkeit wie Helligkeit auf dem Bild ikonografisch so zu deuten, dass das menschliche Schicksal nach dem New Yorker Börsenkrach vom 29. Oktober 1929 und der Weltwirtschaftskrise notgedrungenen einem Selbstbezug "Platz" schafft, dessen existentielle Qualität noch nicht feststeht. Nach der abgestürzten Industrialisierung und Kapitalwirtschaft der 1920er Jahre geht es dabei um die Idee der Würde, in deren Rahmen sich der Zweifel ausdrückt, ob die Not überhaupt zu ändern sei. Anstelle von ursprünglichem, nationalem Optimismus treten Wachsamkeit und Skepsis. Kunst platziert Weltlandschaft in sorgsam arrangierte Innenräume. Die Flucht der Gedanken führt in die Ecke von trostlosen Räumen. Dabei entstehen Denk-Bilder des amerikanischen Realismus, in denen auch Mark Rothko seine Epoche in sanfte, dunkel schwingende Farben versetzt. Fenstermetaphorik verlegt die Passage des Menschen in den inneren Raum und in eine ungewisse Welt nach dem unaufhaltsamen Zusammenbruch.

Diesem entschieden entgegen zu steuern hatte Franklin D. Roosevelt am 4. März 1933 bei seiner Amtseinführung als 32. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika versprochen. Sofort startet sein "New Deal", das größte Arbeitsbeschaffungsprogramm der Geschichte. Überall beginnt eine Zeit vermehrter Bautätigkeit zu öffentlichen Zwecken, und auch die amerikanische Kunst wird nach ihrem Engagement für das Land gefragt. Ab Oktober 1934 werden im Rahmen eines staatlichen Förderprogramms arbeitslose Maler zu Aufträgen in öffentlichen Gebäuden angestellt. Sie beziehen Handwerkerlöhne, um im öffentlichen Raum den Fresken der italienischen Renaissance nachzueifern. Voller Skepsis gegen europäische Standards schaffen diese Wand-Maler in ihren "murals" eine amerikanische Bildsprache für die Verschönerung öffentlicher Gebäude. In "American Scenes" entstehen Menschen im Stil Michelangelos, kraftvoll muskulöse Männer mit aufgekrempelten Ärmeln in den zeitgenössischen Landschaften von Industrie und Agrikultur. Die gewaltige nationale Aufgabe orientiert sich an der mexikanischen Revolutionskunst Diego Riveras nach Maximen von Regionalisierung und Sozialkritik und formuliert programmatisch "Kunst als Waffe". Wie nicht anders zu erwarten, erblickt dabei leider auch eine Vielzahl von erschreckend schrecklicher "Kunst" das Licht dieser Welt der "Works Progress Administration" (WPA).

Um 1937 findet deshalb die Kunst in den USA keinen euphorischen, sondern einen skeptischen, bisweilen ratlosen Ausdruck. Mark Rothko wird ab Juni 1936 für drei Jahre vom "Federal Arts Project" angestellt. Ihm ist es entscheidend zu verdanken, dass neben den Aufträgen für Wandgemälde auch Leinwandbilder, Skulpturen und Drucke gefördert werden. So entstehen von 1935 bis 1943 im Rahmen des "New Deal" rund 2.500 Wandgemälde, 18.000 Skulpturen, 108.000 Gemälde und 250.000 Grafiken. Roosevelt und seine Künstler vollbringen in Amerika die Vision einer kulturellen Demokratie aus dem Bösen Erwachen vor Inflation, Armut, Kriminalität und Ausbeutung. Im Gegensatz zur europäischen Moderne findet man in der amerikanischen Malerei von 1937 kein Grauen, sondern Melancholie und "Kontemplation", das mit Vorsicht und leichtem Schaudern erlebte Gefrieren von Geschichte und Gesellschaft weltweit. Im Gegensatz zur Ausgrenzung und Verfolgung der Moderne in Europa fand Amerika politisch Mittel und Wege, ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Notlage mit Unterstützung und Förderung auch der Kunstschaffenden zu mildern und zu überwinden. Welchen Einfluss diese optimistische Haltung auf die Entwicklung der nationalen Kunst gehabt hat, ist an deren weltweiter Positionierung nach 1945 abzulesen: Auch für den Staat – wie auch für jedes Individuum – lohnt sich die Investition in Kunst, auch und vor allem in Moderne.