Sonntag, März 11, 2007

Neue Welt 2: Wildnis und mehr

Thomas Cole
View in the White Mountains
64,5 x 89,4 cm, Öl auf Leinwand
Wadsworth Atheneum, Hartford Mass.
mit freundlicher Genehmigung des Bucerius Kunst Forum Hamburg

Wie die amerikanischen Ureinwohner - wenn auch nicht in der "wilden" Variante von John Vanderlyn (s. Neue Welt 1) - zum festen Inventar der Historienmalerei gehören, so versteht sich "Wildnis" in der amerikanischen Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts als Symbol der Neuen Welt. Immer aber geht es auch um Besitznahme und Besiedlung der amerikanischen Wildnis, und schon früh wird die damit verbundene Umgestaltung der Landschaft nicht als unbezweifelter Fortschritt gefeiert.

So auch in der frühen (und nur scheinbaren) Idylle View in the White Mountains des erst 26jährigen Thomas Cole, nachdem dieser vier Jahre zuvor beschlossen hatte, Landschaftsbilder nach der Natur zu malen und Künstler zu werden. Seine romantische Vision der amerikanischen Wildnis entstand nach einem Besuch der White Mountains in New Hampshire im August 1827 und ist eine "Komposition", darf also nicht als naturgetreue Wiedergabe der realen Landschaft missverstanden werden. An die Stelle der Ureinwohner ist der weiße Siedler getreten, der im hinteren Vordergrund mit einem Korb in der rechten Hand und einer Axt über der linken Schulter auf der Straße zwischen Crawford und Franconia geht, in der Ferne gefolgt von einer Zweiergruppe. Die Vormittagssonne hat die Wolken stellenweise durchbrochen und beleuchtet sinnfällig die Szenerie: den schneebedeckten Mount Washington im Hintergrund, das tiefe Flusstal des Amonasuc im Mittelgrund und vorn Felsen, Siedler und sturmzerfetzte Baumgruppen vor und hinter ihm. Aber die Wildnis ist nicht nur gezeichnet von den Naturgewalten einer stürmischen Nacht, die gelben Streifen auf den Bergen sind unübersehbare Wunden von Erdrutschen, deren Ursache in Form von Baumstümpfen und den Stämmen gefällter Bäume der Siedler Weg säumen, dessen pfützenübersäte Fahrspuren dezent aber deutlich die menschlichen Eingriffe in die wilde Natur und deren Folgen signalisieren. Die schnelle Besiedlung der Wildnis, in der ein einzelner Mensch klein, von geringer Bedeutung ist, beschädigt eine wunderschöne Landschaft. Das Bild dieser Landschaft tritt an die Stelle der Natur und perfektioniert diese sogar, wie Daniel Wadsworth nach dem Erwerb des Gemäldes am 21. Dezember 1827 an den Künstler schreibt: "Und der Baum im Vordergrund ist ganz so real wie ein Baum in der Natur und sogar realer als jeder Baum draußen."

Thomas Cole ging es in seiner dezenten "Komposition" eher um die für den aufmerksamen Betrachter zweifelsfreie Übermittlung seiner Botschaft als um die wirklichkeitsgetreue Darstellung der Natur: Der Künstler fühlte sich wie Siedler und Goldgräber in der Neuen Welt als Pionier; die gemeinsame Mission bestand darin, die Schätze dieser Neuen Welt zu bergen, die Aufgabe des Künstlers (und Wissenschaftlers) zusätzlich darin, die absehbaren Folgen dieses Tuns zu imagineren. Die amerikanische Landschaftsmalerei thematisiert also weniger die Vergangenheit als – mit den Objekten der Gegenwart – die Zukunft. Das Interesse an der unberührten Natur mündet im 19. Jahrhundert ein in eine Ästhetik der Wildnis, die Größe und Vielfalt der Landschaft und ihrer Natur-Wunder ambivalent als Symbol und Potenzial der unbegrenzten Möglichkeiten des neuen Landes und der neuen Nation, der Neuen Welt, darstellt.

Thomas Coles "höhere Form" der Landschaftsmalerei als Programm einer eigenen nationalen Kunst formuliert "Natur-Nation" als Identitätsstiftung der Vereinigten Staaten von Amerika. Wildnis in dieser amerikanischen Landschaftsmalerei ist Natur, hochgradig aufgeladen mit religiösen und politischen Inhalten, ist Gottesgeschenk, Manifestation göttlichen Wirkens und Verheißung irdischen Wohlstands, ist Garten Eden für ein ausgewähltes Volk. Diese Ideologie der Wildnis blendet ihre eigene Verdrängung durch Kultivierung und technischen Fortschritt in der Malerei nicht aus, ist sie doch – zumindest in der Kunst – eine nachwachsende Ressource für Nature's Nation.

Thomas Cole
Landscape Composition. St. John in the Wilderness
91,4 x 73,5 cm, Öl auf Leinwand
Wadsworth Atheneum, Hartford Mass.
mit freundlicher Genehmigung des Bucerius Kunst Forum Hamburg

Wenige Monate vor View in the White Mountains hatte Thomas Cole Landscape Composition. St. John in the Wilderness vollendet. Beide Gemälde haben als Quer- und Hochformat vergleichbare Ausmaße. Die "Komposition" der Landschaft verbindet amerikanische Wildnis mit biblischer Topografie und hebt das Landschaftsbild in die Sphäre der Historienmalerei. Die Gegenwart Biblischer Geschichte, hier die Predigt des Johannes in der Wüste von Judäa (Matt. 3,1-3), kanonisiert die atemberaubende Szenerie aus großen Felsformationen im Bildvordergrund, einem zentralen Bergmassiv mit gewaltigen Felsgipfeln und Wasserfall, sowie dramatischen Nebelschwaden und Wolken, die trotz solitärer Palme am linken Bildrand aus einer Sammlung von Versatzstücken amerikanischer Wildnis stammen. Johannes der Täufer neben dem Holzkreuz, die bunte Schar seiner gestikulierenden Gefolgschaft und auch die beiden Figuren mit Pferd tief unten im beleuchteten Tal assoziieren göttliche Präsenz in wunderhafter Natur und entfalten ein imposantes Panorama zerklüfteter Szenarien des Erhabenen mit begeisternden Farb- und Helligkeitseffekten.

Dies sind Dimensionen der amerikanischen Landschaftsmalerei, die sich zügig zum Selbstbild einer neuen Kultur-Nation entwickeln: Schon früh stellen Thomas Coles Landschaften auch nationale Ereignisse und Motive aus der indigenen amerikanischen Literatur dar; Bibel und Religion waren in der amerikanischen Zivilisation ohnehin omnipräsent. So ist es nur folgerichtig, wenn die amerikanische Wildnis in der Landschaftsmalerei Coles und der Hudson River School im Sinne des amerikanischen Gründungsmythos gedeutet wird: Amerika als Gottes Land und Erneuerung seines Bundes mit den Menschen erhält seinen malerischen Ausdruck von der Wildnis als landscape of belief, die den göttlichen Auftrag visualisiert, das Land zu erschließen, um die Ideale der Zivilisation und Demokratie zu verbreiten.

Die Erhebung der Wildnis zum zentralen Thema in Thomas Coles frühen Landschaften bedeutet einen bewussten Bruch mit den Konventionen der europäischen Landschaftsmalerei. Nach Rückkehr von seiner ersten Europareise (1829-32) setzte Cole sich das Ziel, (seine) Landschaftsmalerei auf die Höhe der Historienmalerei zu heben. Als wichtigster Maler der ersten Generation der Hudson River School macht Cole so die Landschaftsmalerei zum Medium amerikanischer Selbstdefinition: Er katapultiert den Betrachter seiner Bilder unmittelbar in die amerikanische Wildnis und vermittelt so eindringlich in einem allerdings bei ihm nur individuell geprägten Landschaftserlebnis authentisch wirkende Erfahrungen von Bewunderung und Schrecken in den ästhetischen Kategorien des Pittoresken, Schönen und Erhabenen, die auch zentrale Kennzeichen der amerikanischen Nation sind. Seine imaginären Komposit-Landschaften und die der Hudson River School erschaffen mit der tatkräftigen Unterstützung amerikanischer Schriftsteller, Wissenschaftler und betuchter Mäzene trotz des Fehlens einer eigenständigen amerikanischen Kultur-Tradition einen neuen, nun auch kulturellen Nationalismus.