Mittwoch, Juni 16, 2010

4 Tonnen unendliche Leichtigkeit

Abraham David Christian
Interconnected Sculpture 2007/2009

Bronze 389 x 410 x 340 cm
Foto Hans-Christian Schink
Katalog S. 50/51

Raumgreifend aber nicht raumfüllend umschließt die Skulpturspirale 60 Kubikmeter Atmosphäre mit der Eleganz und Schwerelosigkeit eines Wasserstrudels oder Sternennebels. Das Bronzeband besteht aus der Addition gleicher Elemente, hat in seiner Gesamtheit keinen Anfang und kein Ende und suggeriert kontinuierliche Bewegung, eingefroren in einem Augenblick fragilen Ausgleichs. Dieser umschlossene Raum der Balance bildet einen Raum der Harmonie bei Verzicht auf symmetrische Ordnung und wird gerade dadurch zu einem Raum der Mitte im Sinne der Materialisierung eines eigentlich kaum fixierbaren Moments. Die Komposition von Raum und Zeit betont das Momenthafte auf Dauer und schreibt dem skulpturalen Objekt musikalische Qualitäten ein. Wir vernehmen die Musik der Sphären im Angesicht von vier Tonnen filigraner Bronze. Hierin besteht das Faszinosum eines Skulpturentyps des Zeichners und Bildhauers Abraham David Christian (geb. 1952), dessen monumentale Variante derzeit im Museum Küppersmühle Station macht und den zentralen Raum der Sonderausstellung einnimmt.

Der Künstler war bei der Ausstellungseröffnung am 10. Juni anwesend, er war für die zahlreichen Vernissage-Besucher(innen) aber nicht präsent. Er wurde von den vier Festrednern vorgestellt und ständig zitiert, trat selbst aber nicht neben sein Werk, weder erklärend noch dankend - der Dank ist ganz Sache des Publikums. Und dazu besteht auch aller Anlass, denn die 50 Exponate in den 7 Schau-Räumen der von Museumsdirektor Walter Smerling kuratierten Retrospektive markieren einen fulminanten Lebens-"Weg" (so auch der Titel der Ausstellung) eines Künstlers, der von globaler Expansion und tiefer Meditation gekennzeichnet ist. Hand aufs Herz: Wann haben Sie den Namen ADC zum ersten Mal gehört? Es ist gar kein Versäumnis, wenn dies erst vor wenigen Minuten war, aber ab jetzt sind Reisen in seine Welt(en) für Sie faszinierende Stationen multikultureller und überzeitlicher Kunst&Kultur-Geschichte. Machen Sie sich auf den "Weg": Nicht umsonst beherrscht das Kanji 道 die Titelseite des Ausstellungskatalogs. Es steht für kommunizierende Bedeutungsebenen, interconnected, die das Selbstverständnis von Abraham David Christian umgreifen: Der "Weg" als Straße bezeichnet die Route einer realen wie mentalen Reise, deren Fahrt als Mittel und Methode Kurs nimmt im eigenen wie universellen Lebens-Lauf der Dinge auf die moralischen wie künstlerischen Prinzipien von Gerechtigkeit und Wahrheit. Das und nicht weniger beanspruchen Person und Werk von ADC.

Der Künstler wuchs in den Niederlanden in einer kunstsinnigen, großbürgerlichen Kaufmannsfamilie auf, deren bevorzugtes Sonntagsvergnügen Museumsbesuche waren. Dort waren Museen gesellschaftliche Treffpunkte, während sie in Deutschland Orte des Rückzugs sind - und als solche für Abraham David Christian ebenfalls reizvolle Refugien. Inzwischen ist er ein internationaler Künstler, der heute seine Lebens- und Schaffensräume zwischen Düsseldorf, New York und dem japanischen Hayama verortet. Hier, in der Präfektur Kanagawa unweit der Sagamibucht zwischen der alten Minamoto-Shogunat-Stadt Kamakura und dem Hl. Berg Ogusu gelegen, haben seine Zeichnungen und Skulpturen ihre geistige und kulturelle Heimat. Hier lebt der Künstler als glücklicher Mensch, denn: "Es ist das Allerwichtigste im Leben, ein glücklicher Mensch zu sein." Welch einen "Weg" zu diesem Selbst er in den vergangenen 40 Jahren zurück gelegt hat, wird deutlich, wenn man zurückblickt auf Harald Szeemanns 5. Documenta 1972, auf der ADC, gerade einmal 19 Jahre alt, seine radikaldemokratische Kunstauffassung für eine direkte Demokratie durch Volksabstimmung mit den Fäusten gegen keinen geringeren als Joseph Beuys gestaltete - nach drei Runden stand Beuys als Sieger nach Punkten fest. Aber schon damals verkörperte er die strikte Trennung von Kunst und Künstlerpersönlichkeit, die als Gegenentwurf zum zeitgenössischen Künstlerstar bis heute seine beschriebenen Auftritte in ihrer randständigen und damit exzentrischen Position charakterisieren.


Abraham David Christian
Hayama_7

Gips 2006
Museum of Modern Art Tokyo
Katalog S. 12

So monumental wie "Interconnected Sculpture" sind auch die "7 Türme der Weisheit", die nur als kleine Gipsmodelle aus dem Atelier des Künstlers in Hayama gemeinsam auf ein Bild passen. In originaler Bronzegröße sind auch sie in der Küppersmühle auf- und ausgestellt, Seite an Seite mit den "Torri del Silenzio", den 7 "Türmen des Schweigens" aus den Jahren 2007/08. Bei aller Grandiosität, Einzigartigkeit und Eleganz verbreiten beide Serien eine geheimnisvolle Stille in ihrer figuralen Reduktion auf das Wesentliche. Jede einzelne Skulptur, ob aus Bronze, Gips oder Papier, verbirgt in der Wucht ihres großen Formats die Sinnlichkeit und gleichzeitige Zerbrechlichkeit, die jeder minimalistischen Kunst innewohnt, und Inhärenz ist auch das eigentliche Schaffensziel von Abraham David Christian: Gern hätte er es, wenn man das Äußere seiner Skulpturen vergäße, davon absähe, "um vorzudringen zu dem Kern, der nicht sichtbar ist". Diesen Wunsch hatte er bereits Ende der 1960er Jahre, als er seine skulpturalen Arbeiten mit dem Werkstoff Erde begann, einem Material, das Zerfall von Anfang an einkalkuliert. Weniger das endgültige Produkt interessiert ADC, mehr noch Kunst als Prozess - und hier insbesondere sein Interesse am Prozess des Scheiterns als Ausdruck des eigenen, persönlichen wie künstlerischen, Selbst: "Wir scheitern notwendig mit dem, was wir tun." Und so ist es nicht verwunderlich, dass die Sprache seiner Kunst wie die Artikulation seiner Selbst die Sprache der Stille ist, verwandt und geschult an Wittgensteins Schweigen.

Form nimmt dieses Schweigen 2007 an unter der chinesischen Prämisse "Der Himmel ist rund, die Erde ist eckig" und manifestiert sich in sieben stufenförmig, aus 6-7 Hexaedern aufgebauten pagodenartigen Türmen, die in Erinnerung an frühgeschichtliche Bauformen gleichsam sakrale Stufen von erotischer Anmutung und leiser Sinnlichkeit bilden. Von hier ist es nur ein kleiner aber jetzt monumentaler Schritt zu den unmittelbar danach geschaffenen "7 Türmen der Weisheit", mit denen das Runde des Himmels nun endgültig die Eckigkeit der Erde überwindet. Wir stehen vor einer synthetischen Ästhetik, die das Versprechen eines Gemeinsamen und Verbindenden von Werk, Person und Wahrheit symbolträchtig als Kunst einlöst, Brücken schlagend von der Renaissancekunst (Donatello Michelangelo) zur Avantgarde des 20. Jahrhunderts (Giacometti, Brancusi, David Smith) im Angesicht primitiver Kunstobjekte aus afrikanischen und asiatischen Kulturen. Abraham David Christian hat in der Küppersmühle in Duisburg seinen ganz persönlichen Himmelshügel errichtet, er steht auf einem hoch aufragenden Götterberg globalisierter Kunst & Kultur.


ABRAHAM DAVID CHRISTIAN
THE WAY 道 DER WEG

Werkschau der Skulpturen und Zeichnungen
noch bis zum 29. August 2010 im MKM Duisburg
zu den eingeschränkten Öffnungszeiten
Mi 14-18 Uhr, Do 11-18 Uhr, Fr nach Vereinbarung, Sa, So und feiertags 11-18 Uhr

Erstmalig zeigt Abraham David Christian im Museum Küppersmühle "HAYAMA_7 : Türme der Weisheit", eine neue Gruppe monumentaler Bronzeskulpturen. Es erwarten Sie weitere rund 50 Exponate aus den Bereichen Zeichnung und Skulptur, die in sieben Schau-Räumen präsentiert werden. Neben der Ausstellung ist der Künstler mit einem eigenen Sammlungsraum im Museum vertreten, in dem weitere Zeichnungen und kleinformatige Skulpturen aus Papier zu sehen sind. Zur Ausstellung erscheint ein umfangreiches Katalogbuch bei Kerber Art (33 € an der Museumskasse).

Weitere Informationen hier
http://www.museum-kueppersmuehle.de/


Freitag, Juni 04, 2010

Keinen Bock auf Arbeit

Auf roten Bürostühlen rollen die Ausstellungsbesucher(innen) an schmalen, meterlangen und sägerauen Tischbändern durch den abgedunkelten Kuppelsaal des Gustav-Lübcke-Museums in Hamm, nachdem sie zuvor auf ebenso schmalen, mehrmeterlangen schiefen Ebenen durch asketische Architektur die 2. Etage erschritten haben. Das alles ist nicht weiter anstrengend, hat aber deutlich einen stärkeren Charakter von Arbeit als bei anderen Bilder-Schauen. Und um Arbeit, um "Ware und Person", um "Fusionie" und um "Falsche Freiheit" geht es auch zentral in den dezidiert politischen Arbeiten des Berliner Zeichners Andreas Siekmann. So wie bei ihm Gelb zur dominanten (Filzstift-)Farbe Rot gehört, gesellt sich zum Konzept Arbeit das Lebenselixier Arbeitslosigkeit - und das hat folgerichtig die Farbe Blau und ist zumeist bewegt und eindringlich bewegend aquarelliert. Mehr braucht Andreas Siekmann nicht, um seine Sequenzen zu gestalten. Fehlt ihnen auch der verkniffene Agit-Prop-Charakter plakativer Polit-Botschaften, so sollen Themen und Aussagen seiner "Storyboards" doch klar und deutlich, unmissverständlich sein. Zur Kunst werden sie durch ihre vielschichtige zeichnerische Gestaltung und ihre inszenierte Utopie.


Andreas Siekmann
Ne travaillez jamais, Blatt 4
Aus: Gesellschaft mit beschränkter Haftung 1996-99
Filzstift auf Papier 21 x 29,7 cm (DIN A4)
MACBA Museu d'Art Contemporani de Barcelona
© VG Bild-Kunst Bonn 2010

Vor laufenden Kameras demonstrieren sieben Bluejeans im Talkshow-Rund vor einem beredten Moderator und eindeutig gestikulierendem Publikum für ihr Recht auf "Keinen Bock auf Arbeit", buchstabieren das ABM(aßnahme) der Kontrollgesellschaft neu zu "Anstatt Beschiss Maloche" und entrollen ihre grenzüberschreitend globale, englischsprachige Lohnforderung nach 1.500 (Euro ?! mtl.) steuerfrei für alle. Die real existierende Gesellschaft im bekannten Fernseh-Setting ist bis hinter die Kulissen unverwechselbar verständlich gezeichnet und lässt keinen Deutungsspielraum zu. Die Protagonisten des pop-ig gelb-rot inszenierten Events reagieren jeweils unmissverständlich, von Peinlich- und Ratlosigkeit links über Unverständnis und Befremden bis hin zu offener Wut und eindeutigem Vogelzeigen. Das Establishment macht aus seiner öffentlichen Meinung keinen Hehl, selbst auf die Gefahr hin, den Regieanweisungen aus der Kulisse zumindest dieses eine Mal nicht zu folgen. Denn was sich diese sieben leeren Hosen da auch leisten, erfordert nun wirklich den spontanen Widerspruch. Denn wenn ihnen allen auch das Fleisch in der Hose und der ganze Oberkörper fehlen, so ist doch die Botschaft ihrer Haltung unverkennbar - und die verstößt gegen jeden vorherrschenden Geschmack und alle guten Sitten. Und dabei ist Rot-Mannfrau doch wirklich liberal, eben, lässt jedem seine Freiheiten und seine eigene Meinung - aber was zu viel ist, ist zu viel. Treffen Selbst- und Fremdbild im öffentlichen Raum, auf offener Bühne, in Gegenwart der Medien aufeinander, ist auf jeden Fall das eigene Gesicht und der kollektive Schein zu wahren. Und das nicht nur beim raumgreifenden Thema prekärer Arbeitssituationen wie etwa illegaler Lohnarbeit, monopolistischer Unternehmenskulturen und ideologisch konkurrenzloser wirtschaftlicher Machtverhältnisse.
Die Gegenposition irritiert, ist aber nicht weniger verständlich. Nicht anwesende Träger blauer Hosen, ehemaliger Arbeitshosen, suggerieren Unangepasstheit, Jugend und das Klischee von Freiheit und Abenteuer, sind aber ohne Substanz, bilden konsumschwache oder (schlimmer noch) konsumunwillige Personengruppen, sind Geldsubjekte ohne Geld in einem urbanen Raum, der von ISO-Typen beherrscht wird, deren entindividualisierte Köpfe in schematisierten Körpern stecken, deren Seelen Piktogrammen gleichen. Dieser figurative Konstruktivismus lässt keine bürgerliche Individualität zu. Deutlich wird dies erst beim Abschreiten oder -rollen (s.o.) von Andreas Siekmanns Zeichnungs-Avenuen, die in parallelen und mehrwinklig kreuzenden Sichtachsen den musealen Schauraum kartographieren und dessen Wände erklimmen. Hunderte prall gefüllter Einzelblätter, alle in DIN A4-Querformat, alle in Rot, Gelb und Blau (schon in den 1960er Jahren fragte der amerikanische abstrakte Expressionist Barnett Newman "Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue"), in 14 thematisch angelegte Serien unterteilt, verknüpfen kreuzworträtselartig gezeichnete Argumentationsketten mit verschiedenen Leserichtungen, die wie Filmstreifen gestaltet sind und Siekmanns künstlerische Auseinandersetzung mit politischen, ökonomischen und städtischen Lebens- und Entscheidungsräumen thematisieren.


Andreas Siekmann
ABMachine, Blatt 11
Aus: Gesellschaft mit beschränkter Haftung 1996-99
Filzstift auf Papier 21 x 29,7 cm (DIN A4)
MACBA Museu d'Art Contemporani de Barcelona
© VG Bild-Kunst Bonn 2010

Andreas Siekmann ist der Zeichner des öffentlichen Stadtraums in einem globalisierten Wettbewerbsstaat, aber er ordnet sich auch ein als Fortsetzer und Vertreter linkspolitischer Kunstgeschichte so unterschiedlicher Maler wie Piet Mondrian und Fernand Léger. Mit ihnen verbindet sich sein Interesse an gesellschaftspolitischen Themen, vor allem aber ihre Nostalgie für ein gemeinsam ge- und erlebtes Kunst-Land. "Alle in Jeans Jobs wollen bald eine Perspektive", heißt es in Siekmanns Eigenkommentar zu seinen "Fremdfiguren"-Hosen Hanna Handy, Theo Tunix, Harry Habenichts oder Paula Prekär: "Nur was ist, wenn die Jeans keinen Job findet." Kein Fragezeichen, auch kein Ausruf. Simply full stop. Und an diesem Punkt wird die Sehnsucht zum Metier der Kunst, die blaue Jeans-Röhre zum reminiszenten Ubahn-Tunnel, ein bltzblanker Graffitiwaggon zum Identifikationsobjekt mit den künstlerischen Vorvätern und Idolen: Vor einer Welt-Tapete, deren Kunst-Kerne immer kleiner und deren Um-Welten immer komplexer, undurchdringlicher und unverständlicher werden, rollt zeichenhaft ein isolierter Monolith in das so gar nicht graffitihafte blaue Hosenbein. Keith Haring erscheint im New Yorker Ubahn-Schacht, seine Botschaften versprechen viel und sind doch schwer zu entziffern. Der Waggon nimmt Fahrt auf und wird gleich verschwunden sein. Was bleibt? Bluejeans. Punkt. In einem Interview mit Guillaume Paoli vom 20. November 1999 bekräftigen Andreas Siekmann und Alice Creischer: "Wir sind weder Animateure noch Interessenvertreter/innen". Ihre künstlerische Arbeit darf nicht verordnet, soll selbstbestimmt und selbst-bestimmend sein. Und so bündelt Siekmann gesellschaftliche Diskurse in seinen Zeichnungs-Sequenzen, zeigt dort ihre Auswirkungen, möglichen Reaktionen und Gegenreaktionen auf, bleibt zeichnerisch aber nicht an dieser Stelle stehen, sondern überschreitet die Darstellung des Faktischen und die Varianten der Möglichkeiten mit einem Gegenentwurf, seiner künstlerischen Vision, die er im Medium der Kunst erprobt: "Auf der Suche nach den Keimen des Möglichen", wie er und Alice Creischer es in einem weiteren Interview am 25. Oktober 1999 mit Klaus Ronneberger formuliert haben. An dieser Stelle, in ihrem visionären Charakter, teilt politische Kunst die Wesen- und Zweckbestimmung künstlerischen Schaffens generell … und dass Kunst nur Negation des Bestehenden sein kann, wissen wir doch alle spätestens seit Theodor W. Adornos Ästhetischer Theorie. Sie muss nur gezeichnet werden. Immer wieder. Immer neu. Immer gleich - erkennbar. Und das tut Andreas Siekmann, spätestens seit 1996.

Andreas Siekmann
Aus: Gesellschaft mit beschränkter Haftung /
From: Limited Liability Company, 1996-2006
bis 8. August 2010 im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm/Westf.

Es erwarten Sie die Installation "Aus: Gesellschaft mit beschränkter Haftung" (1996-1999) aus dem MACBA Museu d'Art Contemporani de Barcelona und eine jüngere Parallelsequenz, "VideoKnow" (2002-2006), eine Leihgabe der Galerie Barbara Weiss Berlin.

Weitere Informationen hier
http://www.hamm.de/8500_7089.html

Sonntag, Januar 31, 2010

Dubai a.d.Emscher

Heiner Altmeppen
Landschaft an der Emscher 1998-2008
Acryl auf Holz 120 x 240 cm
Privatbesitz Deutschland
© VG Bild-Kunst Bonn 2009

Wir stehen auf dem Gasometer in Oberhausen und schauen aus 118 Metern Höhe auf Ruhr 2010, deren Verwaltungszentrum horizontzentriert als Silhouette in gleißendgüldenem Sonnenlicht auszumachen ist - symbolträchtig, aber ganz schön weit weg. Doch das Gute ist nah, liegt uns geradezu zu Füßen: Emscher und Rhein-Herne-Kanal. Jedem weitsichtigen und nachdenklichen Überirdischen wird klar, dass die Emscher jenes unbelebte Wasserband mit linealglatten Uferdeichen ist, das verkehrstragend rechts von der Bundesautobahn und links vom Kanal als dem einzig Bewegten in ihre Mitte genommen wird. Denn tatsächlich bewegt sich nur hier etwas: ein vom unteren Bildrand halbierter rotweißer Lastkahn auf dem Kanal und ein roter Mensch mit weißem Hund links hinter der Kanalbepflanzung auf Höhe des mittleren Überflutungsbeckens. Warum stelle ich mir vor, der rote Mensch sei gerade einmal 13 Jahre alt und sein weißgescheckter Liebling mache dort gerade einmal sein Geschäft? Vielleicht weil es gut passen würde zu diesem Legoland unserer Konsum- und Freizeitwelt, die bestens ausgestattet ist mit einem vollständigen Baukastensystem für eine synthetische Stadt-Landschaft. Denn dieses großformatige, hyperrealistische Gemälde zeigt eine für Kinderaugen stilisierte, panoramaartige Spielzeuglandschaft. Minutiös und detailverliebt ist in diesem von Menschenhand gestalteten Ruhrgebietspanorama alles gleichmäßig scharf gezeichnet, alle Objekte mit gleiche Geltung versehen, Wichtiges nicht von Unwichtigem geschieden - komponiert und versammelt unter einem aufregend dramatischen Theaterhimmel.
Oder ist alles ganz anders als es aussieht? Perspektive und Schatten, Anatomie und Raum, Oberfläche und Atmosphäre stimmen in hohem Maße mit unseren Erfahrungen von Wirklichkeit überein - aber wir blicken auf eine inszenierte Realität. Wir erkennen die betont distanzierte Perspektive, die nüchterne Bildsprache, die Objektivität vortäuscht, gleichzeitig aber Konventionen unmerklich manipuliert und dadurch Irritation, tiefgründige Verunsicherung bewirkt. Diese Verunsicherung durch die Stimmung des Fantastischen über dem Bildganzen wächst proportional zur realistischen Genauigkeit der Darstellung. Landschaft ist hier Ausschnitt der Welt, Menschenwerk, ist Motivraum für die eigene Erfahrung und Beobachtung der zeitgenössischen Welt - und das Abenteuer der Wirklichkeit beginnt dort, wo das Alltägliche und Bekannte neu entdeckt wird. Und das geschieht durch Kunst, die eine neue Wahrnehmung auslöst, die Anstoß gibt zur Schaffung eines neuen Bewusstseins gegenüber der eigenen Lebenswelt.

Realismus ist also gerade nicht eine Kunst, die unsere sichtbare Wirklichkeit reproduziert, als sei sie nur ein interesseloses Abbild, ein bloßes Spiegelbild der Natur. Bei aller Genauigkeit der Darstellung, technischer Raffinesse und vordergründiger Objektivität ist die Wiedergabe der Wirklichkeit gerade Täuschung, täuschende Ähnlichkeit und Unmittelbarkeit. Die Oberfläche der Welt wird in handwerklicher Meisterschaft akribisch genau dargestellt und stellt gerade dadurch Wirklichkeit kontinuierlich in Frage. Das Paradox des künstlerischen Versuchs einer objektiven Wirklichkeitsdarstellung und unserer Erkenntnis, dass Wirklichkeit nicht objektiv erkennbar sein kann, manifestiert sich im Unvermögen realistischer Kunst, die Welt in einem Bild zu begreifen und festzuhalten. Realismus ist eine höchst subjektive Methode der Annäherung an Wirklichkeit mit ästhetischen Mitteln, bedeutet eine Haltung zur Welt, die ganz verschiedenen Intentionen entspringen kann, individuellen ebenso wie sozialen, aktuellen ebenso wie moralischen.


Andreas Gursky
Dubai World III 2008
C-Print 237 x 342,5 cm
Besitz des Künstlers
© VG Bild-Kunst Bonn 2010

Das macht ein exemplarischer Vergleich der Arbeiten von Heiner Altmeppen und Andreas Gursky deutlich. Weil gerade die präzise, detailgenaue und dadurch hochgradig glaubwürdige Imagination der sichtbaren Wirklichkeit bei Altmeppen ihren Gegenstand interpretiert, ohne ihn optisch zu modifizieren, lässt sie das ganze Szenario fragwürdig erscheinen, dringt erkennend in das Wesen des Gesehenen ein. Erkenntnistheoretisch geht es um nichts weniger als der Frage nach der Wirklichkeit und der künstlerischen Darstellbarkeit von Welt, einer Welt, in der Künstler wie Betrachter nicht (mehr) zu Hause sind, eines Alltagslebens, das gerade mit seiner glatt gespachtelten Oberfläche zerbrechende oder bereits zerbrochene soziale und politische Strukturen zeigt. Auch Gursky beschreibt eine fragwürdige Welt, ohne vordergründig Partei zu ergreifen, plakativ Missstände anzuprangern. Sein "Dubai World" von 2008 ist eine globalisierte Version von Altmeppens Vision der "Landschaft an der Emscher" im Wandel von 1998 bis 2008. Das fantastische Panorama einer künstlichen Inselwelt suggeriert eine großformatige Farbfotografie aus orbitaler Vogelperspektive. „The World“ ist eine auf der Basis von Felsschüttungen aus verdichtetem Sand aufgespülte künstliche Inselgruppe in Dubai, 4−10 km vor der Küste des Stadtteils Jumeirah. Die 300 Inseln sind in Form einer Weltkarte angeordnet und stellen Kontinente und Länder der Erde dar. Die frei verkäuflichen Inseln werden eine Größe zwischen 23.000 m² und 87.000 m² haben und ausschließlich per Boot oder Hubschrauber zu erreichen sein. Gurskys "Welt" nun ist eine aufwändig detaillreiche, computergestützte Nachbearbeitung entstehender Wirklichkeit, die verdient, mit Misstrauen begegnet zu werden, denn unter dem schönen Schein des scheinbar abstrakten Musters von unregelmäßig hellen Flecken, die den Anschein einer grenzenlosen Weltkarte in unendlicher Weite suggerieren, entdecken Künstler und Betrachter den perversen Anspruch gottesgleicher Schöpferkraft in der sich materialisierenden Realität bereits existierender Verunstaltung paradiesischer Natur zum Zwecke exklusiven Konsums.

Aber Kunst ist kein Spiegelbild der Welt, sondern ein Spiegel, in dem sich der Betrachter immer auch selber erkennen kann und soll. Und so bildet Gursky die hochmütige Perversion der Natur nicht bloß ab, er wirkt gestalterisch an deren Schöpfung mit, nicht um sich an der Gigantomanie zu beteiligen, sondern um sie auf ihr kritisches Potential hin zu medialisieren: Er verwandelt das Vergängliche und Vorübergehende eines neuen, ozeanischen Turmbaus zu Babel in etwas künstlerisch Bedeutsames für seine historische und moralische Bewertung. Wenn Gustave Courbet 1855 apodiktisch feststellte, dass " entscheidender als das »Was« des Motivs das »Wie« der Umsetzung ist" - und so die "Nullstelle" der Kunst neu definierte - so definiert Gursky eineinhalb Jahrhunderte später die digitale Kunst als "Amt des Zweifels, der Suche und Zeichendeutung", die Wirklichkeit als Parallelwelten wahrnimmt und fatalistisch kommentiert, dass jede Zeit Realität anders wahr nimmt: Gursky akzeptiert den Abschied von einer einheitlichen Wirklichkeitsvorstellung der Welt und damit seine Entlarvung der Wirklichkeit als Illusion als Inthronisierung der Illusion als Wirklichkeit. Die Vollendung der "Welt" war für 2020 geplant. Im Zusammenhang mit der weltweiten Finanzkrise 2009, im Folgejahr von Gurskys virtueller digitaler "World", wurde die Fertigstellung des Projektes auf unbestimmte Zeit verschoben, zurzeit ruhen die Arbeiten: "Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes." (Salvador Dalí)

Realismus – das Abenteuer der Wirklichkeit
Courbet – Hopper – Gursky

bis 24. Mai 2010 in der Kunsthalle Emden

Es erwarten Sie rund 100 Künstler mit ca. 200 Kunstwerken aus den Bereichen Malerei, Fotografie, Skulptur und Videokunst, die, In acht Kapiteln präsentiert, erstmals einen Überblick über realistische Strömungen vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart bieten.
Die Ausstellung ist der Auftakt zu einem reichhaltigen Jahresprogramm mit Kunst, Musik und vielen weiteren Kulturveranstaltungen. Festivals, Ausstellungen und historische Rundgänge, aber auch kulinarische Events und Naturerlebnisse zwischen Wattenmeer und Moor präsentieren ein Jahr lang das „Abenteuer Wirklichkeit“ in Ostfriesland.
Zur Ausstellung erscheint ein Katalogbuch bei Hirmer mit ca. 200 Farbabbildungen, 300 Seiten, 25 € an der Museumskasse, in der Ausstellung werden ein Audioguide sowie ein attraktives Veranstaltungsprogramm für Jung & Alt angeboten. Im Anschluss an Emden wandert die Ausstellung zu deren 25-jährigem Jubiläum an die Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung nach München, danach zur Kunsthal Rotterdam.

Weitere Informationen hier
http://www.kunsthalle-emden.de

Montag, Dezember 14, 2009

Von Deutscher Scholle zu Russischer Abstraktion


Robert Sterl (1867-1932)
Kartoffelernte ca 1905
Öl auf Leinwand 37,5 × 57 cm
Kunsthistorisches Museum Görlitz

Eigentlich ist in der oberen Hälfte des Bildes alles dargestellt. Zwei Pferde, braun und schwarz, angespannt vor einen Pflug, der schon keinen Platz mehr auf dem Bild findet, stehen passgenau in der linken oberen Bildecke und geduldig im Rücken der Kartoffelleserinnen. Mit Kopftuch und blaugrauer Arbeitskluft knien diese oder bücken sich in den Ackerfurchen, die perspektivisch auf den Rand ihres Dorfes zustreben, das in der Ferne als schmales grünes und blauviolettes Band den hohen Horizont bildet. Dominant aber sind weder Mensch noch Tier, nicht Baum oder Haus, sondern das weite Meer der arbeitsbewegten beigebraunen Scholle. In sie hat der Maler seine ganze bildnerische Energie gelegt, in ihr links unten sein bescheidenes Monogramm vergraben. Insofern ist die untere Hälfte des Bildes sicher die interessantere und wichtigere für das Verständnis von Robert Sterls Interpretation seines weit verbreiteten Motivs - Kartoffelbuddler, professionelle wie selbsternannte, gab es allenthalben auf deutschen Landen und Leinwänden zwischen deutsch-französischem und erstem (Welt-)Krieg.

Wilhelm II konnte mit dieser kaiserfernen „Armeleutemalerei“ nicht viel anfangen, auch wenn er die „Kartoffelernte“ wohl nicht als „Rinnsteinkunst“ bezeichnet hätte. Bezog er dieses Schimpfwort doch eher auf das, was aus dem Land des französischen Erbfeindes kunstmäßig an die deutschen Akademien oder in die Berliner Museen und Galerien zu schwappen drohte. Und doch, als der Maurer- und Steinmetzsohn Robert Sterl aus dem Dresdner Stadtteil Dobritz 1881 sein Studium an der Dresdner Kunstakademie beginnt, hat sich die französische Variante des europäischen Impressionismus fast schon erledigt - auch wenn die Kunde von ihr bis dahin noch gar nicht bis Dresden durchgedrungen war. So geht Robert zunächst in eine konservativ antimoderne, in eine akademische Zeichen- und Mallehre und wechselt die folgenden zehn Jahre lustlos zwischen mäßig kolorierter Historienmalerei und biedermeierlichen Genreszenen. In seiner Freizeit knüpft er Kontakte zum Goppelner Künstlerkreis, der sich in dörflicher Umgebung vor den Toren Dresdens, quasi in einem Barbizon an der Elbe, mit freier (Mal-)Arbeit vor der Natur beschäftigt. Naturalismus ist angesagt, und die Fachwelt hatte schon 1869 auf der 1. Internationalen Kunstausstellung im Münchner Glaspalast erstaunt die französischen Ergebnisse dieser Freilichtmalerei auf deutschem Boden bewundern können. Danach gab es dann landauf landab kein Halten mehr: Künstlervereinigungen gründen Malerkolonien, besuchen sich gegenseitig und malen miteinander unter freiem Himmel und vor dem Motiv. Netzwerke entstehen und bald private Kunstschulen, die ein neues, antiakademisches Verständnis von künstlerischer Ausbildung realisieren und die Restriktionen der Ausstellungsjurierung bei den jährlichen Salons umgehen. So entsteht in Deutschland 20 Jahre nach dem Französischen Impressionismus eine zweite Variante des europäischen Impressionismus, ohne diesen je vor Ort und zu seiner Zeit eigentlich kennengelernt zu haben.

So ist es nicht verwunderlich, dass auch Robert Sterl nach erfolgreichem Abschluss seines Dresdner Akademiestudiums 1893 nach Frankreich reist, seine Sommermonate mit befreundeten Maler(inne)n bis 1904 im hessischen Wittgenborn verbringt und 1894 nach dem Vorbild der Münchner Secession den Verein bildender Künstler Dresden mit begründet, aus der zwei Jahre später eine Malschule für Damen erwächst. Sterl beschließt das 19. Jahrhundert auf der Seite der künstlerisch Alternativen, bevor er ab 1906 als Professor an der Dresdner Kunstakademie Studienreisen zum Zwecke der Freilichtmalerei nach Holland und Worpswede in das akademische Ausbildungscurriculum aufnimmt.

Zwei Jahre zuvor war Robert Sterl auf Probe als Akademielehrer angestellt worden, und genau in diese Zeit fallen seine Beobachtungen bei der „Kartoffelernte“, die somit unerwartet Zeugnis seines künstlerischen Credo wird: Auf der Suche nach Ursprünglichkeit widmet sich der Künstler zunächst dem Thema „Auf dem Lande“, ganz konkret bei Erntearbeit, bäuerlicher Vorratswirtschaft, Rinderschwemme oder auch im Steinbruch, kunstgeschichtlich und -theoretisch geht es um die Durchdringung des Naturalismus und Realismus des 19. Jahrhunderts. Dabei verfährt der Impressionismus in Deutschland weniger radikal in Farbgebung und Formauflösung, es geht um eine tiefere Bildaussage, nie aber um Sozialkritik. Die unverfälschte, wahre Kunst ist das Ziel, der französischen Leichtigkeit steht die deutsche Ernsthaftigkeit gegenüber, mit einer meist weniger lichten Farbpalette, dafür aber einer geschlossenen Bildform und Bildthemen, die neben Natur, Landschaft und Interieur letztendlich Sujets der Arbeitswelt und der weniger privilegierten Schichten salon-fähig machen. Allein mit dem Mittel der außergewöhnlichen Bildkomposition stellt uns Robert Sterl seine Kunst-Botschaft vor und dar.



Robert Sterl (1867-1932)
Am Hafen von Astrachan
Hinter Schiffsmasten aufragende Kirchtürme
ca 1910
Öl auf Leinwand 47,5 × 54 cm
Privatbesitz


Hätten wir die Kirchtürme hinter den Schiffsmasten nicht auch selbst erkannt? Da ist sich der Künstler eben nicht sicher. Wir schreiben das Jahr 1910, fünf Jahre sind seit der „Kartoffelernte“ verstrichen, und Wassily Kandinsky hat in München schon die Vorbereitungen zu seinem „Ersten abstrakten Aquarell“ abgeschlossen. Robert Sterl und der Deutsche Impressionismus haben es bis in die Akademie geschafft, aber die Entwicklung der Modernen Kunst legt ein rasantes Tempo vor - und wieder drängt Paris. Ab 1908 unternimmt Sterl mit seinem russischen Freund Nikolai von Struve bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs vier Russlandreisen. Das Thema des „Geistigen in der Kunst“ begegnet ihm in dieser Zeit auf Schritt und Tritt. In Italien hatte Filippo Tommaso Marinetti gerade 1909 sein erstes futuristisches Manifest veröffentlicht und damit den Anspruch erhoben, eine neue Kultur zu begründen, Kasimir Malewitsch entwickelt in Russland daraus seinen Suprematismus, der als erste konsequent ungegenständliche Kunstrichtung die Stilrichtungen De Stijl und das Bauhaus beeinflusst, und die Anhänger des Konstruktivismus als einer weiteren Ausdrucksform der abstrakten Kunst vertreten ein technisches Gestaltungsprinzip mit meist großen Farbflächen und geometrischen Grundformen. Die abstrakte Malerei bedeutet insofern einen Bruch mit dem fundamentalen Grundprinzip traditioneller Malerei, als bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Objektbezogenheit, also die Abbildung real existierender Dinge, universaler und stilunabhängiger Bezugspunkt des künstlerischen Schaffens war. Ein abstraktes Bild kann Dingliches in Ansätzen und in stark abgewandelter Form noch erkennen lassen oder auch völlig aus Formen und Farben bestehen, ohne real existierende Gegenstände wiedererkennbar abzubilden. Insofern ist Abstrakte Kunst zu unterscheiden von „gegenstandsloser Kunst“, die keine Abbildfunktion besitzt.

Der deutsche Impressionist Robert Sterl entschließt sich zu einer reinen Farbigkeit, die sich den Farbzuordnungen der Seh-Erinnerung des Betrachters verweigert und seinen Motiven expressive Qualitäten verleiht. Zwar wagt er noch nicht den Schritt, jeden Bezug zur Gegenständlichkeit zu vermeiden und das Gemalte lediglich auf Form- und Farbklänge und ihre innerbildlichen Bezüge und Gegensätze zu beschränken, wie es ein Jahr später (oder waren es doch drei?) Kandinsky in seiner rein abstrakten Malerei tut, aber er erkennt klar seine neue Bild-Sprache. Dennoch will er verstanden bleiben, stellt bei aller neuen, nun nicht mehr allein formgebundenen Farbkraft seine prinzipielle Gegenständlichkeit nicht in Frage, sieht sich aber zur Klar-Stellung veranlasst und nutzt dazu die Titel seiner Bilder. Das Neue in der Wahl und Gestaltung des Motivs erscheint im Gewand des inzwischen akzeptierten Anspruchs künstlerischer Subjektivität, ohne das existentielle Wagnis künstlerischer Expressivität einzugehen.

Einige der Deutschen Impressionisten, und es sind gerade diejenigen, die in tiefe Vergessenheit geraten sind, gelangen in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bis an die Schwelle des Expressionismus und der Abstraktion. Sie haben mit ihrer ganzen Energie die Restriktionen der Akademie überwunden, diese weitgehend zu einer selbstbestimmten Ausbildungsstätte und Interessenvertretung moderner Kunst umgestaltet, aber die entscheidenden, zukunftsweisenden Schritte der Jüngeren vollziehen sie nicht mit. Ihre Haltung ist individualistisch, kosmopolitisch und demokratisch, ihre Kunst aber bleibt ohne sozialkritische Ambitionen unpolitisch. Ihr Ziel war nicht die Analyse und Veränderung der politischen Rahmenbedingungen ihres Kunstschaffens, sondern der Auf- und Ausbau ihres ureigenen Terrains, der bürgerlichen „Kultur“ - und dies bedeutete vielfach Enthaltsamkeit und Abkehr von wilhelminischer Kultur-Politik. Die Deutschen Impressionisten mischen sich nicht ein, sie repräsentieren - wenn es denn gelingt, dies zu entdecken - eine „sanfte künstlerische Revolution“, die erschöpft von antiklassizistischer Überwindung der Akademie gerade noch das Zugeständnis künstlerischer Subjektivität erlangt. Beides aber sind unerlässliche Voraussetzungen für die bereits gleichzeitig aufscheinende Moderne von Expressionismus und Abstraktion. Es ist das Verdienst von Jutta Hülsewig-Johnen, nicht bei „Sonnenlicht und Gemütlichkeit“ stehen geblieben zu sein, sondern diese Malerei als Scharnier zwischen Tradition und Moderne erkannt und mit dem sympathischen Etikett des „Sanften Revolution“ versehen zu haben, einer Begrifflichkeit, die weiteres Nachdenken verlangt.

Der Deutsche Impressionismus
bis 28. Februar 2010 in der Kunsthalle Bielefeld

Es erwarten Sie über 180 Werke in einer großen thematischen und stilistischen Vielfalt. Erstmals zeigt die Kunsthalle Bielefeld in einer Überblicksausstellung den deutschen Impressionismus als eine landesweit auftretende Kunstbewegung, die eine eigenständige Variante des großen französischen Vorbilds war.
Zur Ausstellung erscheint ein Katalogbuch bei DuMont mit ca. 180 Farbabbildungen sowie ca. 50 historischen Fotografien, 258 Seiten, 24,95 € an der Museumskasse. Ausstellungsbegleitend werden ein Einführungsfilm, ein Audioguide sowie ein attraktives Vermittlungsprogramm angeboten.

Weitere Informationen hier
http://www.kunsthalle-bielefeld.de/

Sonntag, November 29, 2009

Vor der Transformation


Die königliche Tafel
Tafel (6 m) mit 16 Stühlen und Objekten aus Nutzeisen
Dienstleistungs-Environment 1998
Ausstellungen 1998/99:
König, Oberhausen
Der Teufelhof, Basel, CH; Centre d'Arts appliqués contemporains, Genf, CH
Galerie Juste à côté, Lyon, F

An den beiden Stirnseiten der Königlichen Tafel der Metallbildhauerin Heidemarie Wenzel laden Ihre Königlichen Hoheiten ein zum Platz-Nehmen, links Karl der Große, rechts Imperatrice Eugenie, zwischen ihnen tun es den Erlauchten gleich vierzehn Persönlichkeiten des europäischen Hochadels, unter ihnen auch Gräfin Kosel, gen. Kunigunde. Wir sind nicht aufgefordert, Adelslexika zu wälzen, wir sind eingeladen zum Hin-, Drauf- und Reinsetzen, zum Besetzen und -sitzen von Unikaten aus (Nutz-)Eisenteilen mit Geschichte, die Geschichten erzählen (könnten) und denen die Künstlerin Geschichte zuschreibt: Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts beginnt Heidemarie Wenzel, Fundstücke von Schrottplätzen und Bauernhöfen zu sammeln, Werkzeuge, Ackergerät, Montageteile, Traktorensitze, Eggenzinken, Harken, Rechen, Spaten etc., aber auch filigrane Laserreste und Stanzrückstände, sämtlich Abfall oder ausrangierte Gebrauchsgegenstände, „die zu Unwerten erklärten Gegenständlichkeiten des Alltags“ (Wenzel), ihrer ursprünglichen Funktion beraubt und nun, zu fantastischen Objekten zusammengeschweißt, zu inspirierenden Environments zu vereinen, die den (kunstsinnigen) Betrachter und Besucher zum zentralen Anliegen jeglicher Gastlichkeit, zum gemeinsamen Mahl einladen.

Kunst als Einladung zur Teilhabe steht am Anfang der Arbeiten von Heidemarie Wenzel. Schon ihr erstes Environment, „Ein ganzes Haus“, sechs Zimmer, die sie 1992 in einem Abrisshaus in Münsters Bahnhofsviertel über Wochen mit ihren parallel entstehenden Nutzeisen-Möbelobjekten einrichtet, übernimmt diese sympathische Gastgeber-Rolle, und auch das letzte, zehn Jahre später, lädt im münsterländischen Holperdorp anlässlich eines Hoffestes zum „Abendessen“ ein. Dieses „Environment für den Garten“ (2001) versammelt neben zeitbeständigen und bequemen Stühlen, Tischen und Bänken auch Blumen und Tiere, ja selbst Kinderwagen und -spielzeug und, an den Zaun gelehnt, ein veritables Motorrad, ein eigenhändiger Nachbau ihrer von der Künstlerin so innig geliebten Moto Guzzi - allesamt aus Schrott vereint zu einem Gesamt-Kunstwerk. Heidemarie Wenzel kombiniert Nutzeisenteile unverwechselbar und formt sie um zu Kunst-Individuen mit eigenem lokalem Environment, am liebsten mit eigener Geschichte. Ein Beispiel hierfür ist die Inszenierung von WEnzelsMÖbelKAufhaus 1994 im Wewerka-Pavillon am Aasee in Münster, wo das Möbelkaufhaus „WEMÖKA“ auf Zeit seine Pforten öffnet, nachdem einen Monat zuvor eine Werbekampagne mit Plakaten, Radio- und Fernsehspots die verehrte Kundstschaft auf die dann auch tatsächlich zelebrierte „Neueröffnung“ vorbereitet hat. Also doch nicht „Alles Schrott“?

Bestimmt nicht! Die Arbeiten Heidemarie Wenzels folgen sorgfältig formulierten künstlerischen Konzepten und präsentieren sich doch zugleich in sinnlich erfahrbarer Gegenständlichkeit mit einem hohen Nutzungsgrad voller Sinn für Witz, engl. wit, und der beständigen künstlerischen Geste reflektierender (Selbst-)Ironie. Gedanke, Gestalt und Geste sind die konstitutiven Merkmale ihrer Werkgruppen. Im Kulturspeicher Dörenthe bahnt sich nun für diese (Dienstleistungs-)Environments der Jahre 1992 bis 2001 eine „Umformung“ an, die zwar schon ab und an und hier und da konzeptionell gedacht, bislang aber nie in dieser radikalen Konsequenz gestaltet wurde, ihre „Transformation“. Die Künstlerin Heidemarie Wenzel geht radikal den Weg der studierten Philosophin Heidemarie Wenzel: Hatte sie bis jetzt entfunktionalisierte Metallgegenstände neu organisiert zu Skulpturen mit neuen Formen und Funktionen, eben zu Möbelobjekten und diese zu und in Environments zusammengefügt, so werden diese nach der Décroutage in Dörenthe am 6. Dezember zwei Tage später ihre Finissage in der Schrottpresse finden, sie werden maschinell verdichtet, dabei umgeformt, aber nicht zerstört.

Dieser Umformungsprozess geschieht im Wesentlichen ohne künstlerischen Eingriff mit der Einschränkung, dass die industrielle Verdichtung eine massive, willentliche Verdichtung darstellt. Alles Alte aus den Nutzeisen-Environments der Jahre 1992-2001 wird zu etwas ganz Neuem, deren Schöpferin jedoch nicht die Künstlerin ist sondern eine Maschine. Soweit der Gedanke. Was aber kommt dabei gestalterisch heraus? Zu erwarten aufgrund der technischen Voraussetzungen sind geometrischen Formen, quaderähnliche Skulpturen, die in Arrangements zu Skulpturen-Gruppen neue Raum-Installationen ermöglichen. Heidemarie Wenzel befördert diesen Prozess beinahe atemlos. Bereits eine Woche nach dem letzten öffentlichen Auftritt ihrer Environments in Dörenthe stellt sie ihre Transformationen am 13 Dezember 2009 im eigenen Atelier aus – kaum Zeit für nachträgliche schwerwiegende Eingriffe der Künstlerin. Spannend allemal, auch die Frage nach dem nächsten Schritt in diesem fulminanten Konzept, nach dem nächsten Zustand der Skulpturen und deren Installation.

Einen Hinweis darauf mag die Werkgruppe der „Philosophischen Projekte“ geben, die Heidemarie Wenzel seit 2002 geschaffen und im öffentlichen wie musealen Raum ausgestellt hat. Es sind philosophische Sätze, in geometrischen Formen dargestellt, Stahlobjekte in Form von Denk-Tafeln oder Satz-Würfel, aus denen sie Buchstabe für Buchstabe Maximen von Kant, Bloch, Spinoza oder Georg Simmel heraus brennt, um sie diesen Ausgangs-Formen neu geschaffen ausschließlich in Form von Kugeln aus geschweißten Stahl-Buchstaben an die Seite treten zu lassen.

Stahlwürfel und Große Kugel der Freude
100 x 100 x 100 cm und ø ca 160 cm
Ausschnitt Rauminstallation "Sätze in geometrischer Form dargestellt"
Haus der Niederlande, Münster, 2005
Cauté! Spinoza-Grenzgänge
Interdisziplinäres Kunstprojekt zu Leben und Werk
des Philosophen Baruch de Spinoza

Eine Auswahl dieser doppeltgestaltigen, auf kubische Grundformen reduzierten und abwechslungs-, einfallsreich gestalteten Stahlobjekte zeigt der 2. Raum des Dörenther Kulturspeichers. Sie fordern heraus, diese philosophischen Objekte in einem neuen Licht zusammen mit den neuen Skulpturen nach der Transformation der Nutzeisen-Environments zu sehen und zu beschreiben. Wir wollen sehen.

Bis zum 6. Dezember erwarten Sie im Kulturspeicher Dörenthe zwei Werkkomplexe von Heidemarie Wenzel, Nutzeisen-Environments aus Möbel-Skulpturen vor ihrer Transformation und Installationen von Stahlobjekten aus Philosophische Projekten, sowie eigenproduzierte Begleitfilme mit Künstlerinnen-Interviews.

Weitere Informationen hier:
http://www.heidemarie-wenzel.de/

Donnerstag, November 12, 2009

Jan Baegert: Schnörkellose Lehre


Jan Baegert
„Das Jüngste Gericht“ 1505/10
Tempera oder Öl auf Eichenholz 84 x 64 cm
Stadtmuseum Münster


Das Weltgericht, das „Jüngste Gericht“ stellt den endgeschichtlichen Entscheidungskampf zwischen Gut und Böse dar, in dem Jesus als Weltenrichter, wie im Matthäus-Evangelium (vgl. Mt 25, 31-46) berichtet, die gerechten Menschen von den ungerechten trennt. Abgebildet hier ist die letzte Szene aus der Offenbarung des Johannes, die Aufnahme der Glückseligen ins himmlische Paradies und die Höllenfahrt der Verdammten in einem exemplarischen Ausschnitt. Die künstlerische Komposition des Jüngsten Gerichts und seine Bestandteile waren festgelegt. Entsprechend der zentralen theologischen Bedeutung der Thematik entwickelt sich ein Bildprogramm, das von der Romanik bis in die frühe Renaissance, vor allem aber in der Gotik, typischen Muster folgt, nach denen auch Jan Baegert arbeitet. Es ist erkennbar, dass er mit der typologischen Ikonografie seines Sujets, obwohl es sich um ein Frühwerk von 1505/10 handelt, bestens vertraut ist. Offensichtlich reduziert er aber im Hinblick auf seine Auftraggeber und den geplanten Standort seiner Altartafeln Personal, Komponenten und Requisiten auf ein didaktisches Mindestmaß, das den liturgischen Auftrag im Hinblick auf den Bildungsstand der Gläubigen optimal unterstützt. Sein Bildprogramm vermittelt schnörkellose Lehre.

In der oberen, der himmlischen Bildhälfte, befindet sich mittig der auf einem Regenbogen thronende Christus, der Pantokrator und Salvator Mundi, ganz bodenständig ohne Nimbusscheibe, flankiert von der Gottesmutter Maria und Johannes dem Täufer, die bei dem Jüngsten Gericht als Fürsprecher für die zu Richtenden fungieren. Christus ist in ein langes purpurrotes Gewand gehüllt. An der rechten Seite seiner Brust wird die Wunde sichtbar, wie man auch an dem entblößten Fuß das Wundmal der Kreuzigung ausmachen kann. Seine Füße ruhen auf einem weiteren Regenbogen, der die Erde mit dem Himmel verbindet und hier bescheiden anstelle einer Weltkugel fungiert, die seit der Zeit des Altertums als Sinnbild des Universums und der Schöpfung, als Symbol für das Ganze, Vollkommene und Vollendete gilt. Seine rechte Hand ist zur Paradiesseite erhoben, die linke zum Zeichen der Missbilligung und zum Fluch und zur Verdammnis nach unten in Richtung Hölle gerichtet. Wo anderenorts personifiziert aus seinem Mund rechts ein detaillierter Lilienstängel heraus ragt, links sich das zweischneidige blutrote Schwert erstreckt, stehen bei Baegert beide Weg-Weiser vor blauem Himmel statisch Posten: Die Lilie ist das Zeichen hin zu Gnade und Erbarmung, das Schwert versinnbildlicht die Scheidung von Gut und Böse und zeigt den Weg in die Verdammnis.

Das Inventar am oberen Bildrand findet seine bildliche Formulierung in der unteren, der (unter-)irdischen Bildhälfte. Stets werden dort (vom Betrachter gesehen) links die Seligen dargestellt, die in den Himmel auffahren, und rechts die Verdammten, die zur Hölle herabstürzen. Vor dem Hintergrund eines plan planierten Gräberfeldes ist rechts das Schicksal der Verdammten dargestellt. Allein der Rachen eines roten Untiers ist Symbol für Hölle, in deren weit geöffnetem Schlund, versehen mit emblematischen Feuerzungen und von Teufeln ergriffen, die Verdammten hinab gezogen werden. Dort herrscht chaotisches Durcheinander, Schreck- und Teufelsgestalten quälen und drangsalieren die Ausgelieferten. Dämonen mit menschenähnlichem Körperbau, scharfzackigen Hörnern und zangenartigen Klauen sind auszumachen. Die Anzahl der Verdammten ist im Gegensatz zu anderen Darstellungen dieser Art sehr begrenzt, um die Eindringlichkeit der Schilderung zu erhöhen.

Auf der linken Seite unten die Aufnahme der Glückseligen ins Paradies. Gewöhnlich werden sie dort von Petrus begrüßt und anschließend neu eingekleidet. Hier befindet er sich selbst unter den nur sechs Auserwählten auf dem Weg zur Paradiespforte, als einziger in unverdeckter Ganzfigur. Er ist an seinem Schlüssel zu erkennen und bekleidet mit einem schweren, prunkvollen und mit Fibeln geschlossenen Chormantel aus braunrotem Goldbrokat, dessen Muster die variantenreiche, stilisierte Darstellung eines Granatapfels in einem Spitzoval ist. Besonders Hauptpersonen sind in solch wertvolle Stoffe gehüllt, und alle übrigen Glückseligen hier sind (fast) unbekleidet. Dies wie auch der Bildschnitt irritieren. Zu fluchtartig scheint die Bewegung über den linken Bildrand hinaus. In keiner der bekannten, weiteren 15 Tafeln sind Figuren derart angeschnitten und ihrer Perspektive beraubt. Nur ahnbar ist, dass der Zug der Seligen auf einem ansteigenden Weg durch eine gotische Pforte führt. Weg und Ziel zum himmlischen Paradies erscheinen seltsam eingeschränkt, beschränkt. Das Format der Tafel ist einfach zu klein für die mit dem „Jüngsten Gericht“ assoziierte Motivfülle. Unter dem richtenden Christus und unter der Weltkugel, oft – wie auch hier – in der Bildmitte, ist der abgestammte Platz von Erzengel Michael (mit Seelen-Waage und Schwert), der die Seelen der Verstorbenen auf ihrem Weg ins Jenseits geleitet. Ersetzt hier wird er durch einen aus dem Grab aufsteigenden Mönch, der sich betend dem Eingang zum Paradies zuwendet.

An dieser Stelle stößt das reduzierte Bildprogramm an seine Grenzen und verbietet einen Vergleich mit den reifen und fabulierfreudigen „Vorläufern“ Rogier van der Weyden, Hans Memling oder Martin Schongauer. Der Maler Jan Baegert (1465 - ca.1535) aus der Hansestadt Wesel führte eine produktive Werkstatt mit typischen Künstleraufträgen und handwerklichen Aufgaben, er verwendete für seine Arbeiten Vorlagen zeitgenössischer Drucke von berühmten Stechern, übertrug die gedruckten Kompositionen auf seine Bildformate und passte sie seinen Aufträgen an, ein akzeptiertes Verfahren, das er glänzend beherrschte. Die erhaltenen 15 Gemälde von ihm bildeten zwei abgeschlossene Bildzyklen auf dem Flügelpaar eines großen Retabels, das in geschlossenem Zustand acht Szenen aus dem Marienleben und geöffnet acht Szenen aus der Passion Christi gezeigt hat. Es handelt sich nicht um 16 Einzelwerke, sondern um ehemals acht beidseitig bemalte Holztafeln. Die vorhandene Szenenfolge lässt annehmen, dass der nicht erhaltene mittlere Teil dieses Altaraufsatzes die Kreuzigung dargestellt haben muss. Es handelt sich also um einen durch die Flügel verschlossen und nur zu Festtagen geöffneten „wandelbaren Altaraufsatz“, der im geöffneten Zustand mindestens 6,40 m breit, im geschlossenen Zustand etwa 3,20 m breit und 2 m hoch gewesen sein muss. Damit gehörte das Retabel zu den größeren Werken um 1500 und wird wahrscheinlich einen Hochaltar geschmückt haben, der wahrscheinlich in den extremen Reformationsunruhen der Täufer, die 1534 die Herrschaft über Münster erlangten, zerstört wurde.

Rettet Jan Baegert!
Die Restaurierung des ältesten städtischen Kunstbesitzes
bis 14. März 2010 im Stadtmuseum Münster

Mitten im Arbeitsprozess gibt nun das Stadtmuseum Münster Einblick in die Konservierungs- und Restaurierungsmaßnahmen an den Gemälden von Jan Baegert. Ein Teil der restaurierten Tafeln des mächtigen Flügelaltars werden in einer Sonderausstellung präsentiert und die aufwändigen Restaurierungsarbeiten an den Objekten und die einzelnen Arbeitsabläufe detailliert dargestellt. Das Tafelbild„Jüngstes Gericht“ ist eigentümlich matt und auf einer Seite noch voller weißer Flecken. Offensichtlich ist es noch nicht fertig restauriert, und dennoch hängt es an seinem abschließenden Platz in der Sonderausstellung „Rettet Jan Baegert!“ im Stadtmuseum Münster. Das hat natürlich seinen Grund: Vor diesem Bild kann der Betrachter abschätzen, welchen konservatorischen Weg die anderen Exponate bereits hinter sich haben.

Weitere Informationen hier

Mittwoch, Oktober 28, 2009

Heuschober und Kathedralen

„Im neunzehnten Jahrhundert haben die Deutschen ihren Traum gemalt, und es ist allemal Gemüse daraus geworden. Die Franzosen brauchten nur Gemüse zu malen, und es war schon ein Traum.“ An welches deutsche „Zwergobst“ Theodor W. Adorno dabei auch immer gedacht haben mag, „die“ Franzosen sind am Ende des vorletzten Jahrhunderts tatsächlich ein Traum – wenn auch für die Akademie jahr(zehnt)elang ein Alptraum. Dabei waren ihre Traum-Motive diesen „Franzosen“ eigentlich eher gleichgültig, und wenn es denn kein „Gemüse“ war, wechselte einer von ihnen beinahe beliebig zwischen Heuschobern, Pappeln, Kathedralfassaden und dekorativen Seerosen – und das gleich in ganzen Bildreihen: Monet erfand seine Serielle Malerei. Ab 1877 entwickelt er am Gare Saint Lazare seine Vorliebe für Spiegelungen, er dupliziert seine Motive, arbeitet gleichzeitig an 5-6 Bildern und notiert so seine unterschiedlichen Sinneseindrücke und Empfindungen im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten als Aggregatzustände seiner Natur-Erfahrung. Er entscheidet sich bewusst – in dieser Reihenfolge - für ein bestimmtes Motiv, für einen bestimmten Standort und ein bestimmtes Bildformat. Insgesamt reduziert er seine Motive auf einen Natur-Ausschnitt und achtet besonders auf die Korrespondenzen der Farben und Effekte. Dabei geht es ihm vor allem um die Darstellung der jeweilig besonderen Lichtstimmung unter dem Gesichtspunkt der Ganzheit: Ausschlaggebend ist die gleichzeitige Anschauung, die Gesamtheit aller seiner Bilder einer Serie.



Claude Monet
Cathédrale de Rouen 1892
Öl auf Leinwand 100 x 65 cm
Musée Marmottan Monet Paris Inv.Nr. 5174


1892-94 entstehen in vier Serien 20 Gemälde von der Fassade der Kathedrale von Rouen. In den Untertiteln spricht Monet von blauer, grüner und brauner Harmonie, die Kunstwissenschaft hat sich auf graue, weiße, regenbogenfarbene und blaue Serien geeinigt. 1919 definiert Kasimir Malewitsch in seiner Abhandlung "Über die neuen Systeme in der Kunst" Malerei als unendliches Wachsen farbiger Flecken, deren kinetische Energie Bewegung erzeuge, und spricht – ganz im Sinne von Monets priesterlicher Selbstdarstellung („Meine Kunst lebt aus der Kraft des Glaubens, ist ein Akt der Liebe und der Demut“) - von dessen Kathedralen als Be(e)tflächen, auf denen die Malerei wachsen kann: „Wenn ein Künstler malt, dann muss er die Malerei so aussäen, dass der Gegenstand verschwindet, denn aus diesem erwächst die Malerei, die der Maler säen-sehen kann." Malewitsch spricht Monet das Verdienst zu, die gegenstandsorientierte Vollständigkeitsästhetik des 19. Jahrhunderts zugunsten eines seriellen, prozessualen Kunstverständnisses überwunden zu haben. Nicht mehr das Motiv ist bedeutsam, die äußere Natur, an ihre Stelle tritt die Auflösung der Formen, die konventionelle Wahrnehmungsschemata destabilisiert, und die subjektive Aussage des in Gestus, Farbe und Licht autonomen Kunst-Schöpfers: Bei Monet lebt sogar der Stein.



Claude Monet
Meule au soleil 1891
Öl auf Leinwand 60 x 100 cm
Kunsthaus Zürich Inv.Nr. 1969/7

„Getreideschober im Sonnenlicht“ ist die letzte von 18 Ansichten des gleichen Motivs, die zwischen 1889 und 1891, also noch vor den Kathedralen, entstehen. Von Bild zu Bild steigert Monet die Nahsicht auf seinen Gegenstand, bis er am Ende nur die Teilansicht eines Heuschobers präsentiert. Diese Radikalität im Prozess der Formfindung, die immer stärkere Reduktion des Gegenständlichen, stellt sich für Wassily Kandinsky beim Besuch der 1. Impressionisten-Ausstellung in Moskau 1896 als Vorstufe, wenn nicht gar Beginn, der abstrakten Kunst dar, die er doch eigentlich für sich selbst mit seinem „Ersten abstrakten Aquarell“ von 1911 (1913) reklamiert: "Vorher kannte ich nur die realistische Kunst. Und plötzlich zum ersten Mal sah ich ein Bild." Bei Kandinsky ist der Gegenstand schädlich für die Malerei und als Bildelement endgültig diskreditiert. Monets serielle Malerei öffnet vielfältig Fenster zu Neuer Kunst, zur Abstraktion, zu purer Form und reiner Malerei bis hin zur Monochromie, er ist genialer Anreger für völlig neue Kunstrichtungen im 20. Jahrhundert.

Monet
bis 28. Februar 2010 im Von der Heydt Museum Wuppertal


Es erwarten Sie rund 100 Werke Monets aus Privatsammlungen und Museen in aller Welt, von den Anfängen in der Schule von Barbizon über die großartige impressionistische Phase bis hin zu den riesigen Seerosenbildern, die einen umfassenden Blick auf das Malergenie erlauben. Die Ausstellung wird ermöglicht durch eine enge Kooperation mit dem Musée Marmottan Monet Paris und die bewährte Unterstützung der Dr. Werner Jackstädt-Stiftung Wuppertal. Der Ausstellungskatalog kostet an der Museumskasse 25 EUR.

Weitere Informationen hier
http://www.monet-ausstellung.de

Der ganze Monet: Impression

Die Liste der Impressionist(inn)en-Ausstellungen im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends ist schon beachtlich. Jetzt kommt ein neuer Eintrag hinzu mit dem einfachen Titel „Monet“. So schlicht, so anspruchsvoll – der „ganze“ Monet soll es sein, und es ist die erste Retrospektive zum Werk dieses Ausnahmekünstlers in Deutschland. Das ist umso erstaunlicher, als es bis 1926, dem Todesjahr Monets, schon mehr als 70 Ausstellungen mit seinen Werken in Deutschland gegeben hat. Die erste Impressionistenausstellung eröffnete Fritz Gurlitt in Berlin am 8.Oktober 1883, dem Jahr, in dem der 43jährige Monet endgültig nach Giverny übersiedelt. Gurlitt stellte Arbeiten aus, die Carl Bernstein, der erste deutsche Sammler von Monet, gerade erst in Paris von Paul Durand-Ruel erworben hatte, der seit der 1. Impressionisten-Ausstellung 1874 den Arbeiten dieser zunächst verfemten Malergruppe seine Galerie in Paris geöffnet hatte. Durand-Ruel war neben Bernstein auch Hauptleihgeber von Gurlitts Ausstellung, denn spätestens seit dem unvorhergesehenen Konkurs der Union Générale, dem wichtigsten Kreditgeber Durand-Ruels für „seine“ Impressionisten, am 2.Februar 1882 galt es, ihre Arbeiten zu verkaufen, und wenn schon nicht in Frankreich, dann eben in Deutschland und den USA. Und dazu bedarf es der Präsentation. Auf der nach dem Konkurs eilends eingerichteten 7. Ausstellung der Artistes Indépendants in den Salons des Panorama de Reichshoffen im März 1882 wurden 100 Werke gezeigt - allein 35, mehr als ein Drittel, von Monet. Eines davon ist die Winterstimmung eines Sonnenuntergangs über der Seine von 1880:



Claude Monet
Soleil couchant à Lavacourt, effet d'hiver (1880)
Öl auf Leinwand 101 x 150 cm
Petit Palais, Musée des Beaux-Arts de la Ville de Paris


Mit diesem Gemälde schließt sich der Kreis der „Impressionen“ Monets, der 1873 im Hafen von Le Havre mit einem „Sonnenaufgang“ begonnen und dem für die Entwicklung der Kunst im 20. Jahrhundert bedeutendsten Vorreiter den Namens-Stempel aufgedrückt hatte. „Impression, Soleil levant“ hat zwar nur fast genau ein Viertel der Bildgröße von „Soleil couchant“, die Übereinstimmungen sprechen aber für sich: Über einem im Abenddunst bzw. Morgennebel auf der bildmittigen Horizontale angesiedelten Hintergrund – hier einer Häuserzeile am Seineufer, dort den Kaianlagen und Booten im Hafen von Le Havre – erhebt sich ein leicht aus der bildmittigen Vertikale – hier nach links, dort nach rechts - verschobener orangefarbener Sonnenball, der sowohl die übergeordneten Himmels- als auch die untergeordneten Wasserflächen - hier in abendliche, dort in morgendliche – Farbenglut taucht. Zwei Boote mit jeweils zwei Personen queren im Mittelgrund von links nach rechts mit unbekanntem Ziel die Wasser – hier der Seine, dort des Hafens – und werden hier gerahmt von vielgestaltiger Fluss- und Ufervegetation, dort entlassen in die Weite der offenen See. Gelesen werden können beide Bilder als umspannende Pole einer Serie, einem Arbeitsprinzip, dem ein gesondertes nächstes Kapitel gewidmet sein soll: Die schlichte Erkenntnis „la nature ne s'arrête pas“, die Natur steht niemals still, wird zum Angelpunkt von Monets künstlerischem Schaffen.

Wetter ist Monets zentrales Thema in seinen mehr als 3.000 erhaltenen Briefen, nicht verwunderlich, wenn 90% seiner ca. 2.000 erhaltenen Werke Natur- und Landschaftsschilderungen sind, die von Anfang an im Freien (en plein air) und sogar unmittelbar vor Ort (sur le motif) gemalt sind. Gemeinsam ist den „Impressionen“ der melancholische Blick auf eine Landschaft, die deutlich, aber in sicherer Entfernung, die zivilisatorische Handschrift der Menschen trägt. Präzise unromantische Schilderungen sind Monet wichtig, das Hier und Jetzt, flüchtige und zarte Stimmungen, geprägt vom Erfassen des Augenblicks. Sein Pinsel fängt Tausende von vergänglichen Eindrücken ein, Wolken, Regen, Nebel, das gesamte Spektrum der Grautöne ergänzt durch kräftige Farbflecken, vorzugsweise als Referenz des Lichts: Veränderung der Oberflächen von Himmel und Natur. Das Bild besteht aus tausend hingetupften Pinselstrichen, die in alle Himmelsrichtungen wie Strohhalme zu tanzen scheinen und sich schließlich zu einem Gesamteindruck zusammenfügen. In der Realität löst sich alles in Farbschwingungen auf, Monet gibt die Natur so wieder, wie er sie sieht, als Farbnuancen.


Monet
bis 28. Februar 2010 im Von der Heydt Museum Wuppertal


Es erwarten Sie rund 100 Werke Monets aus Privatsammlungen und Museen in aller Welt, von den Anfängen in der Schule von Barbizon über die großartige impressionistische Phase bis hin zu den riesigen Seerosenbildern, die einen umfassenden Blick auf das Malergenie erlauben. Die Ausstellung wird ermöglicht durch eine enge Kooperation mit dem Musée Marmottan Monet Paris und die bewährte Unterstützung der Dr. Werner Jackstädt-Stiftung Wuppertal.
Der Ausstellungskatalog kostet an der Museumskasse 25 EUR.

Weitere Informationen hier