Donnerstag, Oktober 15, 2009

Die Mona Lisa vom Oberrhein

Büste einer heiligen Jungfrau
Oberrhein, Anfang 14. Jahrhundert
weiches Laubholz, 33 x 26 x 17 cm
Adelhausenstiftung
Inv.-Nr. A 1134, Kat. S. 158
© Städtische Museen Freiburg



Eine Schönheit ist sie ja nun nicht gerade - abstehende Ohren, schiefe Nase, verzogener Mund und unverkennbar Ansätze zum jugendlichen Doppelkinn – aber goldig ist sie schon, und das ganz wörtlich: ehemals vergoldete, gewellte Haare, die sich auf dem Rücken zu Zöpfen flechten, mit Halbedelsteinen geschmückt, einen modischen Perlenreif über dem Scheitelansatz und das kragenlose Gewand, soweit wir es sehen können, mit vergoldeten Blumen besetzt. Dieses stammt nun nachweislich aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts, die Dame war da schon mehr als einhundert Jahre alt. Alles andere an ihr ist schmal, lang und zierlich: die Augenbrauen, die Lippen, die Schultern, überhaupt das ganze Gesicht. Und dann diese wasserblauen, mandelförmigen und weit geöffneten Augen, der leicht nach vorn geneigte Kopf und das geschickt verteilte Rouge auf beiden Wangen. Ob dabei jemand (nach)geholfen hat? Ihr schier beseelter Blick schaut uns nicht an, so sehr wir auch versuchen, in Kontakt mit ihr zu treten, er fixiert einen fernen Punkt, und doch ist sie von anrührender Ausstrahlung – authentisch könnte man sie nennen, auch glaubhaft, eine ganz reale Person, nur eben fast 700 Jahre alt.

Was ist ihr Platz inmitten von 90 mittelalterlichen Werken, Gemälden, Glasmalereien, Skulpturen und Druckgraphiken, sämtlich aus der Zeit vor 1500, die das Bucerius Kunst Forum Hamburg momentan aus dem Bestand des Augustinermuseums Freiburg präsentiert? Ihre Bestimmung ist so rätselhaft wie ihr Lächeln, ihr Name so ungeklärt wie ihre Provenienz, sagt Kurator Michael Philipp - die Wissenschaft weiß also wenig über sie, hat aber viel zu ihr zu sagen. Gebürtig ist sie vom Oberrhein, zu einer Zeit, als die Kunst dort und in der gesamten Bodenseeregion, in Freiburg, Straßburg, Colmar, Basel, in voller Blüte stand. Kunst zum Ruhme Gottes war angesagt, Maler, Steinmetze, Bildschnitzer und Teppichwirker des 12. bis 15. Jahrhunderts erschufen lebensnahe Abbildungen von Jesus, Maria und den Heiligen, Kunst zur Veranschaulichung des christlichen Glaubens, für Hoffnung auf ein ewiges Leben nach dem Weltgericht, als Texte für einfachen Leute, für irdische Menschen zwischen Himmel und Hölle.

Besondere Bedeutung für diesen künstlerischen Bild-ungs-Auftrag hat die seit dem12. Jahrhundert enorm gestiegene Reliquienverehrung. Obwohl die erhaltene Fassung der Plastik heute keinerlei Hinweise mehr auf eine mögliche Verwendung als Reliquiar gibt, erinnert sie typologisch stark an die weit verbreiteten Büstenreliquiare der Zeit. Heilige Männer und Frauen sind, ob als Märtyrer, Asket, Mönch oder Wundertäter, Modelle gottgefälliger Lebensführung, sie sind im Besitz wundertätiger Kraft und werden deshalb als Schutzpatrone für beinahe alles und jedes vereinnahmt. Die sich daraus ergebenen inflationären Tendenzen beim Reliquienkult treffen sich mit den seit dem 13. Jahrhundert ausdrücklich sanktionierten Aufgaben christlicher Kunst. Sie ist dezidiert kommunikativ angelegt, tritt in Dialog mit dem Betrachter und unterstützt so in einer Kultur der Bildlichkeit das Verlangen der Gläubigen nach gefühlsmäßiger Identifikation mit dem Kult- und Kunstgegenstand. Schauen und Berühren sind gleichermaßen Bestandteile einer neuen emotionalen Intensität, die Kunstwerke als Ausdruck existentieller Lebens- und Glaubenswirklichkeit be-greifen.

Diese Funktionszuweisung des (fertigen Kunst-)Werks geht einher mit einem gesteigerten Reflexionsgrad des Künstlers über die eigene schöpferische Tätigkeit und den Wahrheitsgehalt seiner Kunst. Zum ersten Mal in der abendländischen Geschichte tritt der Mensch in den Mittelpunkt der Kunst, die nunmehr Welt darstellt, Natur, Sinne und Gefühle, das Schöne und das Hässliche, das Liebliche und das Schreckliche. Es entstehen antwortende Kunstwerke, die ganz im Sinne von Bernhard von Clairvaux eine gotische Weltsicht propagieren, d.h. den Einzelnen, das Individuum betonen, seine Gefühle, sein subjektives Erleben zulassen und zwischen abstrakter Vorstellung und sinnlicher Erfahrungswelt vermitteln. Und diese ist von einem weltanschaulichen Wandel begriffen, einer neuen, existentiellen weil individualisierten Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des eigenen Lebens. Trauer und Schmerz werden die dominierenden Facetten menschlicher Emotionen. Und hier verheißt das geheimnisvolle Lächeln der nicht makellos Schönen, Guten und Wahrhaftigen vom Oberrhein Anteilnahme, Verständnis und Erlösung. Verehrung findet das Dargestellte, nicht die Darstellung - diese aber zeigt in ihren Sonderwegen und Brüchen den Künstler auf dem Weg zu sich selbst, zur kunsteigenen Irritation, auch wenn sie den Gesamteindruck nicht über Gebühr belastet. Hier liegen die Wurzeln für den nachmittelalterlichen Anspruch von Kunst und Kultur als elementare Bausteine gesellschaftlichen Lebens, und hier liegt auch die Ursache für die Faszination der Mona Lisa vom Oberrhein für Hamburger Ausstellungsbesucher 2009/2010.


Zwischen Himmel und Hölle
Kunst des Mittelalters von der Gotik bis Baldung Grien

bis 10. Januar 2010 im Bucerius Kunst Forum Hamburg

Es erwarten Sie rund 90 mittelalterliche Kunstschätze, Gemälde, Glasmalereien und Skulpturen aus der Zeit vor 1500, als ältestes Exponat eine süddeutsche Christusskulptur aus dem 12. Jahrhundert, der dreiteilige Passions-Altar des Hausbuchmeisters (tätig um 1470-1505), die große Sandsteinfigur einer Schutzmantelmadonna von etwa 1360 aus dem Freiburger Münster sowie drei Gemälde von Hans Baldung Grien (1484/85-1545), der schon seine Zeitgenossen durch seine farbintensive, ungeheure Modernität verblüffte. Der Ausstellungskatalog kostet an der Museumskasse 24,80 EUR. Weitere Informationen hier:

http://www.buceriuskunstforum.de/