Sonntag, Januar 31, 2010

Dubai a.d.Emscher

Heiner Altmeppen
Landschaft an der Emscher 1998-2008
Acryl auf Holz 120 x 240 cm
Privatbesitz Deutschland
© VG Bild-Kunst Bonn 2009

Wir stehen auf dem Gasometer in Oberhausen und schauen aus 118 Metern Höhe auf Ruhr 2010, deren Verwaltungszentrum horizontzentriert als Silhouette in gleißendgüldenem Sonnenlicht auszumachen ist - symbolträchtig, aber ganz schön weit weg. Doch das Gute ist nah, liegt uns geradezu zu Füßen: Emscher und Rhein-Herne-Kanal. Jedem weitsichtigen und nachdenklichen Überirdischen wird klar, dass die Emscher jenes unbelebte Wasserband mit linealglatten Uferdeichen ist, das verkehrstragend rechts von der Bundesautobahn und links vom Kanal als dem einzig Bewegten in ihre Mitte genommen wird. Denn tatsächlich bewegt sich nur hier etwas: ein vom unteren Bildrand halbierter rotweißer Lastkahn auf dem Kanal und ein roter Mensch mit weißem Hund links hinter der Kanalbepflanzung auf Höhe des mittleren Überflutungsbeckens. Warum stelle ich mir vor, der rote Mensch sei gerade einmal 13 Jahre alt und sein weißgescheckter Liebling mache dort gerade einmal sein Geschäft? Vielleicht weil es gut passen würde zu diesem Legoland unserer Konsum- und Freizeitwelt, die bestens ausgestattet ist mit einem vollständigen Baukastensystem für eine synthetische Stadt-Landschaft. Denn dieses großformatige, hyperrealistische Gemälde zeigt eine für Kinderaugen stilisierte, panoramaartige Spielzeuglandschaft. Minutiös und detailverliebt ist in diesem von Menschenhand gestalteten Ruhrgebietspanorama alles gleichmäßig scharf gezeichnet, alle Objekte mit gleiche Geltung versehen, Wichtiges nicht von Unwichtigem geschieden - komponiert und versammelt unter einem aufregend dramatischen Theaterhimmel.
Oder ist alles ganz anders als es aussieht? Perspektive und Schatten, Anatomie und Raum, Oberfläche und Atmosphäre stimmen in hohem Maße mit unseren Erfahrungen von Wirklichkeit überein - aber wir blicken auf eine inszenierte Realität. Wir erkennen die betont distanzierte Perspektive, die nüchterne Bildsprache, die Objektivität vortäuscht, gleichzeitig aber Konventionen unmerklich manipuliert und dadurch Irritation, tiefgründige Verunsicherung bewirkt. Diese Verunsicherung durch die Stimmung des Fantastischen über dem Bildganzen wächst proportional zur realistischen Genauigkeit der Darstellung. Landschaft ist hier Ausschnitt der Welt, Menschenwerk, ist Motivraum für die eigene Erfahrung und Beobachtung der zeitgenössischen Welt - und das Abenteuer der Wirklichkeit beginnt dort, wo das Alltägliche und Bekannte neu entdeckt wird. Und das geschieht durch Kunst, die eine neue Wahrnehmung auslöst, die Anstoß gibt zur Schaffung eines neuen Bewusstseins gegenüber der eigenen Lebenswelt.

Realismus ist also gerade nicht eine Kunst, die unsere sichtbare Wirklichkeit reproduziert, als sei sie nur ein interesseloses Abbild, ein bloßes Spiegelbild der Natur. Bei aller Genauigkeit der Darstellung, technischer Raffinesse und vordergründiger Objektivität ist die Wiedergabe der Wirklichkeit gerade Täuschung, täuschende Ähnlichkeit und Unmittelbarkeit. Die Oberfläche der Welt wird in handwerklicher Meisterschaft akribisch genau dargestellt und stellt gerade dadurch Wirklichkeit kontinuierlich in Frage. Das Paradox des künstlerischen Versuchs einer objektiven Wirklichkeitsdarstellung und unserer Erkenntnis, dass Wirklichkeit nicht objektiv erkennbar sein kann, manifestiert sich im Unvermögen realistischer Kunst, die Welt in einem Bild zu begreifen und festzuhalten. Realismus ist eine höchst subjektive Methode der Annäherung an Wirklichkeit mit ästhetischen Mitteln, bedeutet eine Haltung zur Welt, die ganz verschiedenen Intentionen entspringen kann, individuellen ebenso wie sozialen, aktuellen ebenso wie moralischen.


Andreas Gursky
Dubai World III 2008
C-Print 237 x 342,5 cm
Besitz des Künstlers
© VG Bild-Kunst Bonn 2010

Das macht ein exemplarischer Vergleich der Arbeiten von Heiner Altmeppen und Andreas Gursky deutlich. Weil gerade die präzise, detailgenaue und dadurch hochgradig glaubwürdige Imagination der sichtbaren Wirklichkeit bei Altmeppen ihren Gegenstand interpretiert, ohne ihn optisch zu modifizieren, lässt sie das ganze Szenario fragwürdig erscheinen, dringt erkennend in das Wesen des Gesehenen ein. Erkenntnistheoretisch geht es um nichts weniger als der Frage nach der Wirklichkeit und der künstlerischen Darstellbarkeit von Welt, einer Welt, in der Künstler wie Betrachter nicht (mehr) zu Hause sind, eines Alltagslebens, das gerade mit seiner glatt gespachtelten Oberfläche zerbrechende oder bereits zerbrochene soziale und politische Strukturen zeigt. Auch Gursky beschreibt eine fragwürdige Welt, ohne vordergründig Partei zu ergreifen, plakativ Missstände anzuprangern. Sein "Dubai World" von 2008 ist eine globalisierte Version von Altmeppens Vision der "Landschaft an der Emscher" im Wandel von 1998 bis 2008. Das fantastische Panorama einer künstlichen Inselwelt suggeriert eine großformatige Farbfotografie aus orbitaler Vogelperspektive. „The World“ ist eine auf der Basis von Felsschüttungen aus verdichtetem Sand aufgespülte künstliche Inselgruppe in Dubai, 4−10 km vor der Küste des Stadtteils Jumeirah. Die 300 Inseln sind in Form einer Weltkarte angeordnet und stellen Kontinente und Länder der Erde dar. Die frei verkäuflichen Inseln werden eine Größe zwischen 23.000 m² und 87.000 m² haben und ausschließlich per Boot oder Hubschrauber zu erreichen sein. Gurskys "Welt" nun ist eine aufwändig detaillreiche, computergestützte Nachbearbeitung entstehender Wirklichkeit, die verdient, mit Misstrauen begegnet zu werden, denn unter dem schönen Schein des scheinbar abstrakten Musters von unregelmäßig hellen Flecken, die den Anschein einer grenzenlosen Weltkarte in unendlicher Weite suggerieren, entdecken Künstler und Betrachter den perversen Anspruch gottesgleicher Schöpferkraft in der sich materialisierenden Realität bereits existierender Verunstaltung paradiesischer Natur zum Zwecke exklusiven Konsums.

Aber Kunst ist kein Spiegelbild der Welt, sondern ein Spiegel, in dem sich der Betrachter immer auch selber erkennen kann und soll. Und so bildet Gursky die hochmütige Perversion der Natur nicht bloß ab, er wirkt gestalterisch an deren Schöpfung mit, nicht um sich an der Gigantomanie zu beteiligen, sondern um sie auf ihr kritisches Potential hin zu medialisieren: Er verwandelt das Vergängliche und Vorübergehende eines neuen, ozeanischen Turmbaus zu Babel in etwas künstlerisch Bedeutsames für seine historische und moralische Bewertung. Wenn Gustave Courbet 1855 apodiktisch feststellte, dass " entscheidender als das »Was« des Motivs das »Wie« der Umsetzung ist" - und so die "Nullstelle" der Kunst neu definierte - so definiert Gursky eineinhalb Jahrhunderte später die digitale Kunst als "Amt des Zweifels, der Suche und Zeichendeutung", die Wirklichkeit als Parallelwelten wahrnimmt und fatalistisch kommentiert, dass jede Zeit Realität anders wahr nimmt: Gursky akzeptiert den Abschied von einer einheitlichen Wirklichkeitsvorstellung der Welt und damit seine Entlarvung der Wirklichkeit als Illusion als Inthronisierung der Illusion als Wirklichkeit. Die Vollendung der "Welt" war für 2020 geplant. Im Zusammenhang mit der weltweiten Finanzkrise 2009, im Folgejahr von Gurskys virtueller digitaler "World", wurde die Fertigstellung des Projektes auf unbestimmte Zeit verschoben, zurzeit ruhen die Arbeiten: "Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes." (Salvador Dalí)

Realismus – das Abenteuer der Wirklichkeit
Courbet – Hopper – Gursky

bis 24. Mai 2010 in der Kunsthalle Emden

Es erwarten Sie rund 100 Künstler mit ca. 200 Kunstwerken aus den Bereichen Malerei, Fotografie, Skulptur und Videokunst, die, In acht Kapiteln präsentiert, erstmals einen Überblick über realistische Strömungen vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart bieten.
Die Ausstellung ist der Auftakt zu einem reichhaltigen Jahresprogramm mit Kunst, Musik und vielen weiteren Kulturveranstaltungen. Festivals, Ausstellungen und historische Rundgänge, aber auch kulinarische Events und Naturerlebnisse zwischen Wattenmeer und Moor präsentieren ein Jahr lang das „Abenteuer Wirklichkeit“ in Ostfriesland.
Zur Ausstellung erscheint ein Katalogbuch bei Hirmer mit ca. 200 Farbabbildungen, 300 Seiten, 25 € an der Museumskasse, in der Ausstellung werden ein Audioguide sowie ein attraktives Veranstaltungsprogramm für Jung & Alt angeboten. Im Anschluss an Emden wandert die Ausstellung zu deren 25-jährigem Jubiläum an die Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung nach München, danach zur Kunsthal Rotterdam.

Weitere Informationen hier
http://www.kunsthalle-emden.de