Dienstag, Februar 28, 2006

Preisgekrönt: Ali Smiths „Störfall“

Lassen Sie sich nicht täuschen, nichts im und am gerade mit dem Whitbread Novel Award 2005 ausgezeichneten Roman The Accidental ist „zufällig“, „nebensächlich“, „versehentlich“ oder gar „unbeabsichtigt“. Stattdessen bricht gnadenlos „unfallartig“ und „unkontrolliert“ das Chaos herein über den schönen Schein der gutbürgerlichen englischen Mittelklassefamilie Smart in der Person von Amber, deren wirklicher Name, den uns auch die Autorin Ali Smith (siehe ARTUS vom 27.02.2006) nicht verrät, in der Tradition abendländischer Kultur Nemesis ist:

Amber, die gelbgefährlich Bernsteinfarbene, tritt auf wie weiland jene wandlungsfähige Tochter der Nyx und des Okeanos, die, unfähig zu wählen zwischen Fisch und Fleisch (und sei’s nur Ente oder Gans), selbst Zeus erst in Gestalt des Schwans erobern konnte. Sie kennen die dann folgende Geschichte mit Helena als legitimer Tochter aus dieser Verbindung, aber auch vom Trojanischen Krieg, der um derentwillen dann entbrannte. Amber, das Warnsignal, der größte anzunehmende Störfall, ist Ali Smiths geniale Accidental. Ich-Erzähler(innen)-Einschübe zwischen den eigentlichen, von den vier Smart-Protagonisten erzählten Romankapiteln vermitteln Einblicke in ihre Biographie. Es handelt sich um bizarre Leseerlebnisse, die Ali Smith als hypnotische Sprachartistin und subversive Gesellschaftsanalytikerin charakterisieren. Beneidenswert souverän beherrscht sie die Klaviatur nuancenreicher, mehrschichtiger und bedeutungsambivalenter Wortschöpfung. Lassen Sie sich trotz vieler Verkürzungen in der folgenden Übersetzung der Episode von der Zeugung ihrer Titelheldin davon überzeugen, dass The Accidental nicht nur preiswürdig ist, sondern auch lesenswert. Die Passage im Original finden Sie vorab hier.


Und dies ist meine Übersetzung:

Meine Mutter machte mit mir den Anfang an einem Abend im Jahre 1968 auf einem Tisch im einzigen Kino der Stadt. Eine kurze Treppe davon entfernt, oben hinter dem abgenutzten roten Samtvorhang der Loge, gähnte die Platzanweiserin, ließ ihre Taschenlampe herunterbaumeln, stützte sich auf ihre Ellenbogen über dem Rascheln und Züngeln in der letzten Reihe und knibbelte am Holz der Balustrade, von der sie kleine Splitter auf die Kleinstadtkiffer im Dunklen schnippte. Über denen auf der Leinwand lief „Geküßt und geschlagen“ mit Terence Stamp, einem Schauspieler von solch göttergleicher Erscheinung, dass meine Mutter, jung, romantisch, gertenschlank und eigensinnig, und bereits zum dritten Mal in dieser Woche in dem Film, aufgestanden war, den Klappsitz hinter sich hatte hochbumsen lassen, sich an den Beinen der Leute in ihrer Reihe vorbeigedrängelte und den schmuddeligen Gang hinauf eilte zum Ausgang, durch den Vorhang und hinaus ins Helle.

Das Café war leer bis auf einen Jungen, der gerade die Stühle auf die Tische stellte. Wir machen gerade zu, sagte er ihr. Meine Mutter, die immer noch wegen der Dunkelheit blinzelte, tastete sich die roten abgewetzten Stufen hinunter. Sie nahm den Stuhl, den er gerade in der Hand hatte, und stellte ihn, immer noch verkehrt herum, auf den Boden. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen. Sie knöpfte sich die Jacke auf.

Hinter der Kasse drehten sich in der Orangenpresse die zur Hälfte eingetauchten Apfelsinen immer weiter im Kreis auf den Spießen; das Fruchtfleisch am Boden des Behälters wogte auf und nieder, auf und nieder. Die Stühle auf den Tischen streckten ihre Beine in die Luft; die Kuchenkrümel darunter warteten geduldig im Teppichboden auf das Rohr des Staubsaugers. Die prachtvolle Haupttreppe hinab, die hinaus auf die Straße führte, wohin meine Mutter in ein paar Minuten gehen würde, ihre Nylonstrümpfe zu einem warmen Ball zusammen gerollt in ihrer Jackentasche, ihre Schuhe an den Hackenriemen pendelnd in der Hand, lächelten Julie Andrews und Christopher Plummer aus ihren Bilderrahmen, genau so wie sie, um zehn Jahre gealtert, auch noch lächelten, als fünf Jahre später die Glut der Helligkeit das Treppenhaus schwärzte, als der junge Filmvorführer (um den Job betrogen, den er für seinen hielt; die Direktion aber hatte einen neuen Filmvorführer aus der Stadt angestellt, als der alte Filmvorführer starb) das Gebäude mithilfe eines Kanisters Karbolineum ausräucherte, in den er den Stummel seiner Zigarette fallen ließ.

Die teuren Logenplätze, wo Rauchen verboten war? Aufgegangen in Rauch. Das Parkett mit seinem durchgesessenen Ledergeruch? Für immer dahin. Die Samtvorhänge, der glaskristallne Kronleuchter? Verwehte Asche, eine Griesel winzig klein zerbrochner Lichterscherben auf der Oberfläche der Stadtchronik. Die Zeitungen am nächsten Tag waren sicher: ein Unfall. Der Kinobesitzer kassierte die Versicherung und verkaufte das kaputte Gebäude an einen Supermarkt, der, wenig einfallsreich, Mackay’s Cash and Carry heißt.

Aber in jener Nacht im Jahre 1968 hallten in dem schon fast geschlossenen Café die Stimmen hinter seinen Wänden noch von moderner Liebe wider. Noch erhob die Musik sich aus dem Nirgendwo. Gerade vor der Szene, wo der Mob Terence Stamp kriegt und ihn dahin bringt, wo er hingehört, hatte sie ihre Hacken um den Rücken meines Vaters geschlungen, der, völlig verdutzt, ausgeglitten und in sie hineingeschnaubt war, wobei er sie buchstäblich mit Millionen verschiedener Möglichkeiten beglückte, von denen sie aber nur eine annahm.

Hallo.

Ich heiße Alhambra, nach dem Ort meiner Zeugung. Glaubt mir. Alles hat seine Bedeutung.

Von meiner Mutter: Anmut trotz Stress; der Gebrauch von Rätseln; wie man bekommt, was man will. Von meinem Vater: Wie man verschwindet; wie man nicht vorhanden ist.



Montag, Februar 27, 2006

Ali Smith

Den Preis für den besten englischsprachigen Roman des Jahres 2005, den Whitbread Novel Award, hat die 43jährige Schottin Ali Smith bereits in der 1. Januarwoche 2006 erhalten. Ausgezeichnet wurde ihr dritter und jüngster Roman, The Accidental, der am 26.05.2005 bei Hamish Hamilton erschienen ist.

Ali Smith wurde 1962 geboren. Die Eltern, Vater Elektriker und Mutter Busschaffnerin, lebten in einer Sozialwohnung in Inverness. Als jüngstes Kind mit wesentlich älteren Geschwistern beschäftigte sie sich zumeist selbst. Sie studierte die häuslichen Plattenhüllen und lernte so bereits mit drei Jahren Lesen - was Wunder, dass sie, wenn auch ohne Abschluss, in Aberdeen und Cambridge moderne amerikanische und irische Literatur studierte. Konsequent erhielt sie danach einen Lehrauftrag für Englische Literatur an der Hochschule von Strathclyde. Doch schon bald erkannte sie die Sackgasse. Zu Beginn der 1990er Jahre begann sie selbst zu schreiben, anfangs als Therapie gegen die wachsende Müdigkeit im und am akademischen, literaturwissenschaftlichen und -kritischen Universitätsbetrieb, mit zunehmendem Erfolg enthusiastisch und hellwach in der lebensbejahenden Umgebung ihrer ehemaligen Universitätsstadt Cambridge, in einem Haus voll gepackt mit Büchern: "I am a boring booky girl."

So ließen die Literaturpreise auch nicht auf sich warten: Schon für ihre 1. Buchveröffentlichung, den Erzählband Free Love and Other Stories (Virago 1995), erhielt sie vor 10 Jahren den Scottish First Book of the Year Award der Saltire Society, noch im gleichen Jahr den Scottish Arts Council Book Award; Hotel World (Hamish Hamilton 2001), ihr zweiter Roman nach Like (Virago 1997), platzierte sie auf den Auswahllisten der prestigeträchtigen Orange- und Booker-Preise und verhalf ihr 2001 und gleich noch einmal im Folgejahr 2002 wiederum zum begehrten Scottish Arts Council Book Award, 2002 zudem zum Encore Award – und dass, obwohl sie nach eigenen Aussagen Literaturpreise nicht interessieren. Offen gesteht sie, dass sie eine Chance im Literaturbetrieb bekam, weil sie im Trend lag: „Ich war eine proletarische Landpomeranze aus Schottland, und ich bin Lesbe.“ Aber Modetrends allein garantieren nicht 100.000 verkaufte Exemplare wie bei Hotel World. Ali Smith ist eine begabte Geschichtenerzählerin. Wie in ihren Büchern hat auch für sie persönlich das Außergewöhnliche die gleiche Bedeutung wie das Alltägliche.

Ali Smiths Literaturauffassung ist geprägt von der Idee eines vom Autor ab-soluten Kunstwerks und insofern einer in akademischen Kreisen besonders favorisierten Kunsttheorie. Trotzdem spricht sie der Kunst, und hier besonders der Literatur, eine soziale Bedeutung zu, die im Zeitalter der medialen Informationsvermittlung geradezu lebenswichtige Dimensionen für Individuum wie Gesellschaft beinhaltet: „Wörter öffnen das Korsett der Emotionen, und mit ihnen gelange ich den großen, freien Raum des Gestaltbaren.“ Folgerichtig widmet sich Ali Smith den großen Themen der Kunst im Spannungsfeld zwischen Leben und Tod, Liebe, Leiden und Leidenschaft, und dies in einer geschliffenen, humorvollen und menschlichen Sprache, für die sie auch selbst beispielhaft steht: „Geschichten können das Leben verändern,“ ist ihre feste Überzeugung, „erzähl die richtigen, und es geht uns besser.“ Trotzdem bezeichnet sie den Schreibprozess als „schrecklich, abgründig und beängstigend“. Wir ahnen, warum.

In geordneter Regelmäßigkeit wechseln Sammlungen von eigenen Kurzgeschichten mit Romanen, bislang jeweils drei publizierte Bände zwischen 1995 und 2005. Hinzu kommen kontinuierlich Zeitschriftenaufsätze und Literaturkritiken, insbesondere in The Scotsman und Times Literary Supplement. Alle ihre Geschichten handeln von Büchern und vom Schreiben, so auch das jetzt ausgezeichnete Accidental: Eve Smart, Schriftstellerin, verbringt mit Literaturdozent und zweitem Ehemann Michael einen Familienurlaub in Norfolk, begleitet von Sohn Magnus, 17 Jahre alt, und ihrer 12jährigen Tochter Astrid. Es geht typisch britisch (oder englisch) zu. Jeder geht seiner Wege, die Mittelklassefamilie droht zu zerfallen – bis die geheimnisvolle Amber wie aus dem Nichts erscheint und deren Leben von Grund auf und unwiderruflich umkrempelt. Und auch für die Autorin war es eine fremdbestimmte Erfahrung: Der plot wurde ihr Satz für Satz im Jahre 2000 im Traum diktiert, und sie schrieb ihn auf in der Mitte der Nacht. Coleridge lässt grüßen, dem schon Wordsworth nicht glauben mochte. Und auch Struktur und Poetologie des Romans sind klassisch aristotelisch – die drei Kapitel, in denen jeweils alle vier Familienmitglieder getrennt voneinander ihre Sicht-Weisen erzählen, haben die vielsagenden Überschriften „Anfang“, „Mitte“ und „Ende“. Herausgekommen ist, nach Ali Smiths eigenen Worten, ein Kriegsroman, denn zwischen Traum und Publikation begann 2003 der Irakkrieg, und in diesem Sommer spielt auch der Roman.

So wie die Twin Towers in Manhattan am 11. September werden Eve, Michael, Magnus und Astrid heimgesucht von Amber – was bleibt, ist der Beitrag von Astrids Videokamera, deren Bilder sich symbolträchtig in die Imaginationskraft und Erinnerung des Lesers einbrennen. Die Cheflektorin der New York Times, Michiko Kakutani, spricht denn auch gleich nach der Whitbread-Preisverleihung von den Bauchrednerqualitäten der Autorin, die perfekt ihren Hauptpersonen individuelle, unverwechselbare Stimmen verleiht und sie dadurch zu runden, sorgfältig charakterisierten Persönlichkeiten formt. Diese Nahaufnahmen der menschlichen Psyche sind die Stärken von Ali Smith, Generalisierungen oder gar moralisierende Schlussfolgerungen hinterlassen eher einen schalen Beigeschmack – aber The Accidental vollendet ja auch gerade mal die ersten 10 Jahre des literarischen Schaffens der Schottin Ali Smith aus Inverness. Und wer weiß, vielleicht klappt es ja beim dritten Anlauf dann doch mit dem Man Booker Prize in diesem Jahr – die Teilnahme an der Endrunde ist jedenfalls schon geschafft.