Sonntag, November 29, 2009

Vor der Transformation


Die königliche Tafel
Tafel (6 m) mit 16 Stühlen und Objekten aus Nutzeisen
Dienstleistungs-Environment 1998
Ausstellungen 1998/99:
König, Oberhausen
Der Teufelhof, Basel, CH; Centre d'Arts appliqués contemporains, Genf, CH
Galerie Juste à côté, Lyon, F

An den beiden Stirnseiten der Königlichen Tafel der Metallbildhauerin Heidemarie Wenzel laden Ihre Königlichen Hoheiten ein zum Platz-Nehmen, links Karl der Große, rechts Imperatrice Eugenie, zwischen ihnen tun es den Erlauchten gleich vierzehn Persönlichkeiten des europäischen Hochadels, unter ihnen auch Gräfin Kosel, gen. Kunigunde. Wir sind nicht aufgefordert, Adelslexika zu wälzen, wir sind eingeladen zum Hin-, Drauf- und Reinsetzen, zum Besetzen und -sitzen von Unikaten aus (Nutz-)Eisenteilen mit Geschichte, die Geschichten erzählen (könnten) und denen die Künstlerin Geschichte zuschreibt: Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts beginnt Heidemarie Wenzel, Fundstücke von Schrottplätzen und Bauernhöfen zu sammeln, Werkzeuge, Ackergerät, Montageteile, Traktorensitze, Eggenzinken, Harken, Rechen, Spaten etc., aber auch filigrane Laserreste und Stanzrückstände, sämtlich Abfall oder ausrangierte Gebrauchsgegenstände, „die zu Unwerten erklärten Gegenständlichkeiten des Alltags“ (Wenzel), ihrer ursprünglichen Funktion beraubt und nun, zu fantastischen Objekten zusammengeschweißt, zu inspirierenden Environments zu vereinen, die den (kunstsinnigen) Betrachter und Besucher zum zentralen Anliegen jeglicher Gastlichkeit, zum gemeinsamen Mahl einladen.

Kunst als Einladung zur Teilhabe steht am Anfang der Arbeiten von Heidemarie Wenzel. Schon ihr erstes Environment, „Ein ganzes Haus“, sechs Zimmer, die sie 1992 in einem Abrisshaus in Münsters Bahnhofsviertel über Wochen mit ihren parallel entstehenden Nutzeisen-Möbelobjekten einrichtet, übernimmt diese sympathische Gastgeber-Rolle, und auch das letzte, zehn Jahre später, lädt im münsterländischen Holperdorp anlässlich eines Hoffestes zum „Abendessen“ ein. Dieses „Environment für den Garten“ (2001) versammelt neben zeitbeständigen und bequemen Stühlen, Tischen und Bänken auch Blumen und Tiere, ja selbst Kinderwagen und -spielzeug und, an den Zaun gelehnt, ein veritables Motorrad, ein eigenhändiger Nachbau ihrer von der Künstlerin so innig geliebten Moto Guzzi - allesamt aus Schrott vereint zu einem Gesamt-Kunstwerk. Heidemarie Wenzel kombiniert Nutzeisenteile unverwechselbar und formt sie um zu Kunst-Individuen mit eigenem lokalem Environment, am liebsten mit eigener Geschichte. Ein Beispiel hierfür ist die Inszenierung von WEnzelsMÖbelKAufhaus 1994 im Wewerka-Pavillon am Aasee in Münster, wo das Möbelkaufhaus „WEMÖKA“ auf Zeit seine Pforten öffnet, nachdem einen Monat zuvor eine Werbekampagne mit Plakaten, Radio- und Fernsehspots die verehrte Kundstschaft auf die dann auch tatsächlich zelebrierte „Neueröffnung“ vorbereitet hat. Also doch nicht „Alles Schrott“?

Bestimmt nicht! Die Arbeiten Heidemarie Wenzels folgen sorgfältig formulierten künstlerischen Konzepten und präsentieren sich doch zugleich in sinnlich erfahrbarer Gegenständlichkeit mit einem hohen Nutzungsgrad voller Sinn für Witz, engl. wit, und der beständigen künstlerischen Geste reflektierender (Selbst-)Ironie. Gedanke, Gestalt und Geste sind die konstitutiven Merkmale ihrer Werkgruppen. Im Kulturspeicher Dörenthe bahnt sich nun für diese (Dienstleistungs-)Environments der Jahre 1992 bis 2001 eine „Umformung“ an, die zwar schon ab und an und hier und da konzeptionell gedacht, bislang aber nie in dieser radikalen Konsequenz gestaltet wurde, ihre „Transformation“. Die Künstlerin Heidemarie Wenzel geht radikal den Weg der studierten Philosophin Heidemarie Wenzel: Hatte sie bis jetzt entfunktionalisierte Metallgegenstände neu organisiert zu Skulpturen mit neuen Formen und Funktionen, eben zu Möbelobjekten und diese zu und in Environments zusammengefügt, so werden diese nach der Décroutage in Dörenthe am 6. Dezember zwei Tage später ihre Finissage in der Schrottpresse finden, sie werden maschinell verdichtet, dabei umgeformt, aber nicht zerstört.

Dieser Umformungsprozess geschieht im Wesentlichen ohne künstlerischen Eingriff mit der Einschränkung, dass die industrielle Verdichtung eine massive, willentliche Verdichtung darstellt. Alles Alte aus den Nutzeisen-Environments der Jahre 1992-2001 wird zu etwas ganz Neuem, deren Schöpferin jedoch nicht die Künstlerin ist sondern eine Maschine. Soweit der Gedanke. Was aber kommt dabei gestalterisch heraus? Zu erwarten aufgrund der technischen Voraussetzungen sind geometrischen Formen, quaderähnliche Skulpturen, die in Arrangements zu Skulpturen-Gruppen neue Raum-Installationen ermöglichen. Heidemarie Wenzel befördert diesen Prozess beinahe atemlos. Bereits eine Woche nach dem letzten öffentlichen Auftritt ihrer Environments in Dörenthe stellt sie ihre Transformationen am 13 Dezember 2009 im eigenen Atelier aus – kaum Zeit für nachträgliche schwerwiegende Eingriffe der Künstlerin. Spannend allemal, auch die Frage nach dem nächsten Schritt in diesem fulminanten Konzept, nach dem nächsten Zustand der Skulpturen und deren Installation.

Einen Hinweis darauf mag die Werkgruppe der „Philosophischen Projekte“ geben, die Heidemarie Wenzel seit 2002 geschaffen und im öffentlichen wie musealen Raum ausgestellt hat. Es sind philosophische Sätze, in geometrischen Formen dargestellt, Stahlobjekte in Form von Denk-Tafeln oder Satz-Würfel, aus denen sie Buchstabe für Buchstabe Maximen von Kant, Bloch, Spinoza oder Georg Simmel heraus brennt, um sie diesen Ausgangs-Formen neu geschaffen ausschließlich in Form von Kugeln aus geschweißten Stahl-Buchstaben an die Seite treten zu lassen.

Stahlwürfel und Große Kugel der Freude
100 x 100 x 100 cm und ø ca 160 cm
Ausschnitt Rauminstallation "Sätze in geometrischer Form dargestellt"
Haus der Niederlande, Münster, 2005
Cauté! Spinoza-Grenzgänge
Interdisziplinäres Kunstprojekt zu Leben und Werk
des Philosophen Baruch de Spinoza

Eine Auswahl dieser doppeltgestaltigen, auf kubische Grundformen reduzierten und abwechslungs-, einfallsreich gestalteten Stahlobjekte zeigt der 2. Raum des Dörenther Kulturspeichers. Sie fordern heraus, diese philosophischen Objekte in einem neuen Licht zusammen mit den neuen Skulpturen nach der Transformation der Nutzeisen-Environments zu sehen und zu beschreiben. Wir wollen sehen.

Bis zum 6. Dezember erwarten Sie im Kulturspeicher Dörenthe zwei Werkkomplexe von Heidemarie Wenzel, Nutzeisen-Environments aus Möbel-Skulpturen vor ihrer Transformation und Installationen von Stahlobjekten aus Philosophische Projekten, sowie eigenproduzierte Begleitfilme mit Künstlerinnen-Interviews.

Weitere Informationen hier:
http://www.heidemarie-wenzel.de/

Donnerstag, November 12, 2009

Jan Baegert: Schnörkellose Lehre


Jan Baegert
„Das Jüngste Gericht“ 1505/10
Tempera oder Öl auf Eichenholz 84 x 64 cm
Stadtmuseum Münster


Das Weltgericht, das „Jüngste Gericht“ stellt den endgeschichtlichen Entscheidungskampf zwischen Gut und Böse dar, in dem Jesus als Weltenrichter, wie im Matthäus-Evangelium (vgl. Mt 25, 31-46) berichtet, die gerechten Menschen von den ungerechten trennt. Abgebildet hier ist die letzte Szene aus der Offenbarung des Johannes, die Aufnahme der Glückseligen ins himmlische Paradies und die Höllenfahrt der Verdammten in einem exemplarischen Ausschnitt. Die künstlerische Komposition des Jüngsten Gerichts und seine Bestandteile waren festgelegt. Entsprechend der zentralen theologischen Bedeutung der Thematik entwickelt sich ein Bildprogramm, das von der Romanik bis in die frühe Renaissance, vor allem aber in der Gotik, typischen Muster folgt, nach denen auch Jan Baegert arbeitet. Es ist erkennbar, dass er mit der typologischen Ikonografie seines Sujets, obwohl es sich um ein Frühwerk von 1505/10 handelt, bestens vertraut ist. Offensichtlich reduziert er aber im Hinblick auf seine Auftraggeber und den geplanten Standort seiner Altartafeln Personal, Komponenten und Requisiten auf ein didaktisches Mindestmaß, das den liturgischen Auftrag im Hinblick auf den Bildungsstand der Gläubigen optimal unterstützt. Sein Bildprogramm vermittelt schnörkellose Lehre.

In der oberen, der himmlischen Bildhälfte, befindet sich mittig der auf einem Regenbogen thronende Christus, der Pantokrator und Salvator Mundi, ganz bodenständig ohne Nimbusscheibe, flankiert von der Gottesmutter Maria und Johannes dem Täufer, die bei dem Jüngsten Gericht als Fürsprecher für die zu Richtenden fungieren. Christus ist in ein langes purpurrotes Gewand gehüllt. An der rechten Seite seiner Brust wird die Wunde sichtbar, wie man auch an dem entblößten Fuß das Wundmal der Kreuzigung ausmachen kann. Seine Füße ruhen auf einem weiteren Regenbogen, der die Erde mit dem Himmel verbindet und hier bescheiden anstelle einer Weltkugel fungiert, die seit der Zeit des Altertums als Sinnbild des Universums und der Schöpfung, als Symbol für das Ganze, Vollkommene und Vollendete gilt. Seine rechte Hand ist zur Paradiesseite erhoben, die linke zum Zeichen der Missbilligung und zum Fluch und zur Verdammnis nach unten in Richtung Hölle gerichtet. Wo anderenorts personifiziert aus seinem Mund rechts ein detaillierter Lilienstängel heraus ragt, links sich das zweischneidige blutrote Schwert erstreckt, stehen bei Baegert beide Weg-Weiser vor blauem Himmel statisch Posten: Die Lilie ist das Zeichen hin zu Gnade und Erbarmung, das Schwert versinnbildlicht die Scheidung von Gut und Böse und zeigt den Weg in die Verdammnis.

Das Inventar am oberen Bildrand findet seine bildliche Formulierung in der unteren, der (unter-)irdischen Bildhälfte. Stets werden dort (vom Betrachter gesehen) links die Seligen dargestellt, die in den Himmel auffahren, und rechts die Verdammten, die zur Hölle herabstürzen. Vor dem Hintergrund eines plan planierten Gräberfeldes ist rechts das Schicksal der Verdammten dargestellt. Allein der Rachen eines roten Untiers ist Symbol für Hölle, in deren weit geöffnetem Schlund, versehen mit emblematischen Feuerzungen und von Teufeln ergriffen, die Verdammten hinab gezogen werden. Dort herrscht chaotisches Durcheinander, Schreck- und Teufelsgestalten quälen und drangsalieren die Ausgelieferten. Dämonen mit menschenähnlichem Körperbau, scharfzackigen Hörnern und zangenartigen Klauen sind auszumachen. Die Anzahl der Verdammten ist im Gegensatz zu anderen Darstellungen dieser Art sehr begrenzt, um die Eindringlichkeit der Schilderung zu erhöhen.

Auf der linken Seite unten die Aufnahme der Glückseligen ins Paradies. Gewöhnlich werden sie dort von Petrus begrüßt und anschließend neu eingekleidet. Hier befindet er sich selbst unter den nur sechs Auserwählten auf dem Weg zur Paradiespforte, als einziger in unverdeckter Ganzfigur. Er ist an seinem Schlüssel zu erkennen und bekleidet mit einem schweren, prunkvollen und mit Fibeln geschlossenen Chormantel aus braunrotem Goldbrokat, dessen Muster die variantenreiche, stilisierte Darstellung eines Granatapfels in einem Spitzoval ist. Besonders Hauptpersonen sind in solch wertvolle Stoffe gehüllt, und alle übrigen Glückseligen hier sind (fast) unbekleidet. Dies wie auch der Bildschnitt irritieren. Zu fluchtartig scheint die Bewegung über den linken Bildrand hinaus. In keiner der bekannten, weiteren 15 Tafeln sind Figuren derart angeschnitten und ihrer Perspektive beraubt. Nur ahnbar ist, dass der Zug der Seligen auf einem ansteigenden Weg durch eine gotische Pforte führt. Weg und Ziel zum himmlischen Paradies erscheinen seltsam eingeschränkt, beschränkt. Das Format der Tafel ist einfach zu klein für die mit dem „Jüngsten Gericht“ assoziierte Motivfülle. Unter dem richtenden Christus und unter der Weltkugel, oft – wie auch hier – in der Bildmitte, ist der abgestammte Platz von Erzengel Michael (mit Seelen-Waage und Schwert), der die Seelen der Verstorbenen auf ihrem Weg ins Jenseits geleitet. Ersetzt hier wird er durch einen aus dem Grab aufsteigenden Mönch, der sich betend dem Eingang zum Paradies zuwendet.

An dieser Stelle stößt das reduzierte Bildprogramm an seine Grenzen und verbietet einen Vergleich mit den reifen und fabulierfreudigen „Vorläufern“ Rogier van der Weyden, Hans Memling oder Martin Schongauer. Der Maler Jan Baegert (1465 - ca.1535) aus der Hansestadt Wesel führte eine produktive Werkstatt mit typischen Künstleraufträgen und handwerklichen Aufgaben, er verwendete für seine Arbeiten Vorlagen zeitgenössischer Drucke von berühmten Stechern, übertrug die gedruckten Kompositionen auf seine Bildformate und passte sie seinen Aufträgen an, ein akzeptiertes Verfahren, das er glänzend beherrschte. Die erhaltenen 15 Gemälde von ihm bildeten zwei abgeschlossene Bildzyklen auf dem Flügelpaar eines großen Retabels, das in geschlossenem Zustand acht Szenen aus dem Marienleben und geöffnet acht Szenen aus der Passion Christi gezeigt hat. Es handelt sich nicht um 16 Einzelwerke, sondern um ehemals acht beidseitig bemalte Holztafeln. Die vorhandene Szenenfolge lässt annehmen, dass der nicht erhaltene mittlere Teil dieses Altaraufsatzes die Kreuzigung dargestellt haben muss. Es handelt sich also um einen durch die Flügel verschlossen und nur zu Festtagen geöffneten „wandelbaren Altaraufsatz“, der im geöffneten Zustand mindestens 6,40 m breit, im geschlossenen Zustand etwa 3,20 m breit und 2 m hoch gewesen sein muss. Damit gehörte das Retabel zu den größeren Werken um 1500 und wird wahrscheinlich einen Hochaltar geschmückt haben, der wahrscheinlich in den extremen Reformationsunruhen der Täufer, die 1534 die Herrschaft über Münster erlangten, zerstört wurde.

Rettet Jan Baegert!
Die Restaurierung des ältesten städtischen Kunstbesitzes
bis 14. März 2010 im Stadtmuseum Münster

Mitten im Arbeitsprozess gibt nun das Stadtmuseum Münster Einblick in die Konservierungs- und Restaurierungsmaßnahmen an den Gemälden von Jan Baegert. Ein Teil der restaurierten Tafeln des mächtigen Flügelaltars werden in einer Sonderausstellung präsentiert und die aufwändigen Restaurierungsarbeiten an den Objekten und die einzelnen Arbeitsabläufe detailliert dargestellt. Das Tafelbild„Jüngstes Gericht“ ist eigentümlich matt und auf einer Seite noch voller weißer Flecken. Offensichtlich ist es noch nicht fertig restauriert, und dennoch hängt es an seinem abschließenden Platz in der Sonderausstellung „Rettet Jan Baegert!“ im Stadtmuseum Münster. Das hat natürlich seinen Grund: Vor diesem Bild kann der Betrachter abschätzen, welchen konservatorischen Weg die anderen Exponate bereits hinter sich haben.

Weitere Informationen hier